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Was lernt der interessierte Jurist?

H.-D. Assmann hat als Titel „Die Tribunalisierung des Weltverständnisses. Zur rechtlich vermittelten Konstruktion von Weltwissen und Weltvorstellung“ gewählt. Nicht sonderlich verständlich, wie der Autor weiß („das Thema klingt rätselhaft“), aber eben deshalb geeignet für Erläuterungen, die man sich andernfalls hätte verkneifen müssen. „Es geht um die Frage, was Tribunale wie die so genannten UN-Kriegsverbrechertribunale leisten“ und die Antwort erfolgt umgehend: „Sie schaffen Weltwissen und Weltvorstellung, und in letzter Hinsicht sind sie in der Tat auch Orte der Wertschöpfung“. Das, so räumt Assmann ein, sei eine Behauptung, „die nicht unmittelbar einleuchtet“. „Vor allem Juristen“, vermutet der Autor, dürften „damit ihre Schwierigkeiten haben“. Warum? Weil sie „unter einem Tribunal ein inszeniertes Gericht“ verstehen, „etwas, das […] mehr dem Theater ähnelt; etwas, was in Richtung Schauprozess geht“. Schön – das soll ich also nicht unter Tribunal verstehen, um als Jurist keine Schwierigkeiten zu haben. An die Kraniche des Ibykus („die Szene wird zum Tribunal“), die dem Verfasser eingefallen sind, soll ich aber auch nicht denken. An was dann? Assmann erwähnt drei „Deutungen“: Das „Tribunal als inszeniertes Gericht“ (1), „Tribunal als Dramaturgie eines Theaterstücks“ (2), „Verfahren der Schilderung menschlichen Verhaltens“ (3) – drei nicht eindrucksvoll trennscharfe Deutungen, denen der Verfasser noch den Wunsch („wie schön wäre es“) hinterherschickt, die Gerechtigkeit möge doch „hereinbrechen“ wie seinerzeit bei Schillern, ohne „die das Völkerstrafrecht aburteilende Justiz“.

Ich warte jetzt auf die Empfehlung, mit welchem Tribunalbegriff von (1) bis (3) ich meiner präsumtiven Schwierigkeiten Herr werden könnte – aber die bleibt aus. Stattdessen erinnert der Autor an zwei Bücher, die er während seines Jura- und Soziologiestudiums „aufsog“. Luhmanns Legitimation durch Verfahren und Berger/Luckmann Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Das ist schön – vor allem für den Autor, der sich sagen kann, dass er damals las, was wirklich wichtig war – und gut, denn, indem uns jetzt noch einmal erzählt wird, was die Heroen vor 40 und mehr Jahren entdeckt haben, bekommen wir nach drei Seiten endlich ein „Zwischenfazit“: „Wie jedes Verfahren sind die UN-Kriegsverbrechertribunale keine Instrumente der Wahrheitsfindung, sondern Vorgänge der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit im Wege von Rechtanwendung“. Die Kriegsverbrechertribunale sind also überhaupt nichts Besonderes – sie sind „wie jedes Verfahren“. Der Jurist kann aufatmen. Er braucht bei „Tribunal“ an nichts mehr zu denken als an das, woran er ohnehin ständig denken muss: das Verfahren.


Natürlich wächst jetzt die Spannung was eigentlich noch kommen kann – denn eigentlich finde ich mich doch noch ziemlich weit von “Wertschöpfung“ und der „Tribunalisierung des Weltverständnisses“ entfernt. Ich muss weiterlesen.

Es folgt (S.16-18) eine knappe Schilderung der Kriegsverbrechertribunale (Nürnberg, Tokio, Jugoslawien, Ruanda, Sierra Leone, Phnom Penh etc.). Alle diese Verfahren hätten mit dem Umstand zu kämpfen, daß sie nicht nur mit der Legitimation einer Entscheidung dienen, sondern auch Zwecken „die sich nicht in dem Erlass eines Urteils und dem Urteilsspruch erschöpfen“.

Um das zu belegen, referiert Assmann die Aspekte der Inszenierung, die theatralischen Umstände, die Schwierigkeiten der Sachverhaltsermittlung, die Selektivität der Rechtsverfolgung, die Problematik der Individualisierung. Das ist alles richtig. Die Frage ist, was uns zwingt, diese Verfahren als im „Kampf“ mit der „richtigen“, der ordentlichen Justiz befindlich zu deuten – ja sie auch nur ständig mit dieser zu vergleichen und an ihr zu messen. Es handelt sich um rechtsförmige politische Handlungen, die ihren eigenen Regeln und ihrer eigene Dignität besitzen. Sie verdienen durchaus ihre eigene Analyse und meinetwegen auch ihre eigen Theorie, jedenfalls ihre eigene Beschreibung. Aber was sie darüber hinaus für DAS Recht und sein Verfahren bedeuten ist jenseits einer aufgeblasenen Terminologie nicht dargetan.

Die Multifunktionalität dieser Verfahren „entwertet“ das Urteil. Das Urteil: „schuldig oder nicht schuldig“ dürfte in nur wenigen Fällen nicht feststehen, das Strafmaß im Falle des Schuldspruchs auch. Bei Anklagen wegen Völkermords, Angriffskriegs, Verbrechen gegen die Menschlichkeit usw. wird der Zuschauer kaum mit 12 Tagessätzen à xyz Dollar rechnen. Auf das Urteil kommt es aber auch am wenigsten an – worauf es ankommt, ist der Zuschauer. Weil gesellschaftliche Wirksamkeit gewollt ist, ist die Öffentlichkeit der Adressat: Ihr wird der Täter vorgestellt, das Böse wird individualisiert und dadurch benannt, sichtbar, greifbar. Ihr und nur ihr wird eine Geschichte erzählt, die durch die Ermittlungen des Gerichts beglaubigt wird – mögen die Angeklagten sagen, was sie wollen. Wahrheit wird gefunden und erfunden. Die Welt wird belehrt: historia magistra vitae. Die Opfer sind für alle Zeiten Opfer und können nicht mehr Täter werden. Die Hinterbliebenen dürfen ihren Hass auf die Angeklagten werfen und werden empfänglich für eine Aussöhnung mit den anderen. Die Sieger beweisen die Gerechtigkeit ihres Sieges, die Richtigkeit ihrer Anschauungen, die Legitimität ihrer Unternehmung und sie setzen zugleich eine Drohung ab, für solche, die ähnlich denken wollen wie die Angeklagten.

Wer Spass daran hat, kann das die Konstruktion von „Weltwissen“ und die „Schöpfung von Werten“ nennen. Daß DAS Weltverständnis (!) tribunalisiert würde ist dann doch ein bißchen Zuviel des Möchtegern-Tiefsinns.

Mit dieser mehr als schwächlichen Fundierung der „Orte der Wertschöpfung“ hat sich der theoretische Atem der Veranstalter leider schon fast erschöpft. Folgt noch: Inszenierte Wahrheit: Die Gerechtigkeit als schöner Schein von Jürgen Wertheimer. „Theater ist Täuschung“ hebt der Autor an – was niemand sonderlich überraschen wird. Dann: „Nahezu alle anderen sprachbasierten Gesellschaftseinrichtungen sind natürlich gleichfalls Täuschungs-Apparate“. Natürlich! Ein wenig überrascht bin ich schon. „das Gericht, die Kirchen, die Erziehungsanstalten, die Börse, das Parlament“ – alles Täuschungsapparate. Vermutlich ist sogar der Verfasser ein Täuschungsapparat, der mir irgendetwas vormachen will. Was ich aber nicht glauben mag, denn er ist Literaturprofessor an der Universität Tübingen und die hat er unter seinen Apparaten nicht aufgezählt. Aber sie fungiert wohl unter den „Erziehungsanstalten“. Was also wird mir jetzt vom Täuschungsapparat (fernerhin: TA) vorgemacht?

„Jurisprudenz und Literatur wären so gesehen {meint wohl: unter dem Diktat von TA} zwei Systeme, die im Kern nichts miteinander gemein haben“. Dürfte tatsächlich im Kern die Meinung der meisten Juristen sein. „Haben sie sich dennoch etwas zu sagen?“ Das kann man nicht ausschließen. Neben dem Kern bleibt ja immer noch das Fleisch. „Was haben sie sich zu sagen?“ Die Spannung wird fast unerträglich. „Ich will versuchen, anhand einiger Beispiele eine Richtung anzudenken“. Anzudenken! Da hat man nicht allzu viel zu erwarten. Und dann auch noch bloß: „versuchen …anzudenken“! Du lieber Himmel. Wann so einer es wohl bis zum Denken schafft?

Die Beispiele: Schiller, Die Kraniche des Ibycus; Camus, Der Fremde; Büchner Dantons Tod; Dostojewski, Verbrechen und Strafe; Dürrenmatt, Die Panne; Kafka, Der Prozess; Kleist, Michael Kohlhaas.

Also Law in Literature, ein Gesellschaftsspiel, das mancherlei Einsichten vermitteln kann. Vor allem den Juristen (meint Wertheimer). „Es ist, als ob erst die Literatur der Moderne die justizimmanente (jedoch von der Justiz selbst weitgehend verdrängte) Qualität ihrer fiktionalisierenden und unter Umständen willkürlichen Natur transparent machen würde“ Der TA Justiz wird also vom TA Literatur über sich aufgeklärt. Schön – das muß man loben. Noch etwas? Ja: „es ist ein merkwürdig unernstes Verhältnis zwischen der Jurisprudenz und der Literatur – wie zwischen Verwandten dritten Grades“. Hätte ich Nichten oder Neffen, könnte ich das überprüfen. Aber so (un)ernst ist die Sache gar nicht gemeint, denn angesichts „des letztendlich dominanten Unvereinbarkeitsgefühls“ zwischen TA Literatur und TA Justiz (Verfasser redet gern von Jurisprudenz, aber von der weiß er gar nichts und „angedacht“ hat er nur den TA Justiz) erfüllt mich nur der heiße Wunsch, es möge dieses Gefühl berechtigt und real und nicht das Produkt eines TA sein.