1. Die natürliche Lebenserfahrung führt an Grenzen, die deutlich machen, daß die eigentliche Bestimmung des Menschen nicht in seinem natürlichen Dasein und dessen Zielen liegen kann. (Schavan)
Die nur natürliche Lebenserfahrung führt an Grenzen, die deutlich machen, daß die eigentliche Bestimmung des Menschen nicht in seinem natürlichen Dasein und dessen Zielsetzungen allein liegen kann. (Original)
Hat sie nun abgeschrieben oder hat sie nicht?
Unterschiede zum Vorbild sind doch erkennbar: Das fehlende „nur“ mag noch als belangloser Reduktionismus zu verstehen sein, „Ziele“ und „Zielsetzungen“ darf man als Sprachäquivalente deuten; das Weglassen von „allein“ lässt aber klar eine eigene Meinung, ja, geradezu eine Radikalisierung der ursprünglichen Aussage erkennen: Denn natürlich macht es einen Unterschied, ob man sagt, das liegt nicht daran oder das liegt nicht allein daran, und nur ein Schuft käme auf die Idee, die veränderte Botschaft könnte eventuell unterlaufen und gar nicht intendiert gewesen sein.
Der Fortgang der Argumentation verrät ebenfalls die Eigenständigkeit, auf die es ankommt:
Die überall sich meldende Frage: Was soll ich tun? gründet in der Würde des Menschen. (Schavan)
Das ist fraglos etwas völlig anderes als
Die sich in allem natürlichen Verhalten meldende Frage: was soll ich tun? gründet in einem tieferen Wesen des Menschen. (Original)
Überall ist nicht in allem natürlichen Verhalten und Würde ist nicht tieferes Wesen. Wer also wollte hier (oder an den vergleichbaren Stellen, die im Internet kursieren) von Plagiieren sprechen?
2. Schavans Doktorvater, Gerhard Wehle, tut es nicht. In der Rheinischen Post wird seine Ex-Doktorandin von ihm noch einmal nachgeadelt: … „sehr beachtliche Leistung", entspricht „absolut dem wissenschaftlichen Standard", der interdisziplinäre Ansatz sei geradezu ein „Wagnis“ gewesen, die „Analyse gelungen“. Weshalb einem in diesem Zusammenhang Peter Häberle, der Doktorvater des Freiherrn zu Guttenberg einfällt, kann offen bleiben. Der Pädagogikprofessor Wehle hat sicher auch „eng betreut“ und sich zur Frage eines eventuellen Plagiats ohnehin nicht geäußert.
3. Das tun auch die meisten anderen nicht, die glauben, etwas zum Thema beitragen zu sollen. Die Politiker sowieso nicht: Gröhe schimpft, Merkel vertraut, Kauder folgt, Seehofer spottet, vertraut aber ebenfalls, Biedenkopf mäkelt, Künast bang um die Glaubwürdigkeit, Roth fordert Rücktritt, der FDP-Bildungsexperte Patrick Meinhardt fordert ein Ende der politischen Treibjagd durch Rot-Grün, und aus der SPD (Katja Mast) vernimmt man schrillen Protest gegen die dumpfe Mutmaßung Thomas Strobls (CDU), der – Kind seiner Zeit – nicht ausschließen möchte, dass in der Sache „Geld geflossen“ sei. Politiker beschäftigen sich eben nicht mit Wissenschaft, sondern mit Politik und allenfalls mit den befürchteten oder erwünschten Folgen der Wissenschaft für dieselbe.
Das Wort Plagiat, das also, worum es anfangs ging, findet sich allerdings auch in den Stellungnahmen „renommierter Forscher“ nicht. Helmut Schwarz, Präsident der Humboldt-Stiftung, Jürgen Mlynek, Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft, Mathias Kleiner, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Karl Max Einhäupl, Chef der Berliner Charité und früher Vorsitzender des Wissenschaftsrats – sie alle beschäftigen sich mit dem Verfahren der Universität Düsseldorf (unfair, dilettantisch, skandalös, schwere Fehler, beschämend, nur ein Gutachter, …), nicht aber mit dem eigentlichen Anlass. Vielleicht haben sie die Bundesbildungsministerin bei den institutionellen Kontakten („Heilige Allianz“) so sehr schätzen gelernt, dass die Idee, sie könnte beim Promovieren abgekupfert haben, schlicht ihre Vorstellungskraft sprengt. Da ist es wesentlich angenehmer, auf die tumben Universitäten einzuprügeln, als sich dem Gedanken, dass die weisse Bluse ihrer Schirmherrin einen Flecken aufweisen könnte, auch nur anzunähern.
4. Auch der frühere DFG-Präsident, Wolfgang Frühwald, spricht zunächst nur von „Skandal" und meint damit ebenfalls nicht die Wissenschaftsstandards der Ministerin, sondern die Tatsache, dass Teile des Gutachtens, das den Plagiatsvorwürfen nachgeht, an die Presse gelangt sind, bevor es die Betroffene selbst erreichte. Das ist nachvollziehbar. Dass Vertrauliches zur Unzeit an die Presse gelangt, ist zwar keineswegs so selten, wie jetzt allgemein getan wird, man könnte fast sagen, das Gegenteil gäbe Anlass zum Staunen. Aber misslich ist es sicherlich, und die täglich wachsende Gruppe von Kritikern, die sich über die Geheimhaltungsstrukturen an der Universität Düsseldorf ereifert, mag sich füglich wundern, sollte allerdings auch darüber nachdenken, wie der zuständige Promotionsausschuss (15 Personen) hätte informiert werden können, ohne den Mitgliedern das Gutachten bekannt zu geben. Vielleicht wäre an ein Verfahren zu denken, das der amerikanische Strafprozess kennt (Einsperren der Jury bis zur Entscheidung), was aber zweifellos neue Probleme aufwerfen würde.
Frühwald ist aber bei „Skandal“ nicht stehen geblieben. Vielmehr hat er dem weiteren Prozedere gleich generell die Erfolgsaussichten abgesprochen (die zuständigen Universitätsgremien stünden nun unter „öffentlichem Druck“ und können nicht mehr frei entscheiden). Er hingegen war noch entscheidungsfrei genug: „Weder der Vorwurf des Plagiats noch der Vorwurf der bewussten Täuschung ist durch die Untersuchung gedeckt", wird er in SPIEGEL-Online zitiert. Vielmehr gehe es um „handwerkliche Fehler", die nicht derart gravierend seien, dass man von einem Plagiat sprechen könne.
Er muss es ja wissen, denkt man, schließlich war er einmal Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die sich einschleichende Frage, worauf sich sein Dekret stützt, unterdrückt man tunlichst. Argumente werden nämlich nicht geliefert, und zu den konkreten „verdächtigen“ Stellen, die im Internet frei zugänglich sind und die den Leser doch nach Luft schnappen lassen, wird vornehm geschwiegen.
5. Die Verlagerung der Diskussion auf die Ebene „Düsseldorf“ ist aber nicht die einzige kreative Idee der Beschützer-Fraktion. Prominent ist auch der Hinweis, dass das eigentliche Übel die selbsternannten Aufklärer sind: Überwachungsfreaks, Pedanten, Blockwarte, Denunzianten. Diese Argumentation folgt einem vertrauten Muster: In der Antike wurde der Überbringer schlechter Botschaften geköpft, und dem heutigen Arbeitnehmer, der anzeigt, dass sein Boss Schweröl im Fluss verklappt, wird als Whistleblower rechtmäßig gekündigt.
In Sachen Schavan verdient Beachtung auch die neuerdings häufiger gestellt Frage, ob die Angelegenheit nicht längst verjährt sei. Das ist lustig: Verjährung des Fehlens der Voraussetzungen für die Verleihung einer Qualifikation! Vielleicht gar Ersitzung des Doktorgrades? Würde das Verfahren erkennbar vereinfachen und der Vorstellung, dass Annette Schavan für die Wissenschaft kämpfen will (so ihr Statement kürzlich in Jerusalem), ihren Schrecken nehmen.
Und dann ist da noch die Geschichte mit den sich ändernden Maßstäben. Was man denn überhaupt verlangen könne von einer 25-jährigen Studentin, die mit Zettelkasten und alter Schreibmaschine doch weit entfernt war von allen copy and paste-Möglichkeiten, die die Produkte der Wissenschaft heute kontaminieren. Von keinem ist dieser Aspekt eindrucksvoller geschildert worden als von Jacques Schuster, Jahrgang 1965 und WELT-Autor, der offenbar der Auffassung ist, dass die Wissenschaftler vor 50 Jahren noch auf den Bäumen gesessen haben: „Darf man Examensarbeiten, die vor dreißig, vierzig Jahren verfasst wurden, nach den heutigen Maßstäben bewerten? Müssen die Doctores, die 1970, 1980 und 1990 promovierten, nicht nach den damals herrschenden Regeln bewertet werden? Promovierte Akademiker dieser Zeit vor allem aus den Geistes- und Sozialwissenschaften berichten, dass sie angehalten wurden, den Anmerkungsapparat gering zu halten. Manche von ihnen mussten auf Geheiß ihrer Professoren sogar den Anmerkungsapparat verkleinern, was der Lesbarkeit ihrer Arbeiten sicher gut getan hat. In Schavans Fall herrschten offenbar ähnliche Verhältnisse. Ihre Arbeit entspreche den pädagogischen Dissertationen dieser Zeit genauso wie den damals herrschenden "fachspezifischen Besonderheiten, zitiert die FAZ zwei Berliner Erziehungswissenschaftler, die es wissen müssen."
6. Klar: Schavan hat 1980 in den Erziehungswissenschaften promoviert, und über die damals dort herrschenden Usancen müssen Erziehungswissenschaftler Auskunft geben. Aber heißt das, dass die Erziehungswissenschaften jener Tage die Anführungsstriche nicht kannten? Dass wörtliche oder fast wörtliche Übernahmen als Anverwandlungen verstanden wurden? Hat Schavan nur das gemacht, was Rainer Kiesow in einer flammenden Rede gegen die „Zitatwahrheitspolizei“ im Zusammenhang mit der Verwertung fremder Gedanken folgendermaßen beschreibt: „... man eignet sie sich an, man lässt sie in die eigenen Ausführungen einfließen, man wandelt die Quelle der Form des eigenen Gedanken- und Schreibflusses an" (DUZ-Magazin 12/2012).
Wie oft Schavan in diesem Sinne anverwandelt hat und wie dies letztlich zu bewerten ist, ist aus der Berichterstattung leider völlig verschwunden. Hoffentlich lässt sich die Universität Düsseldorf bei ihren diesbezüglichen Ermittlungen durch das Geifern der Renommierten aus Politik und Wissenschaft nicht stören. Für die politische Erscheinung Annette Schavan scheint das Ergebnis relativ gleichgültig zu sein, denn, so Volker Kauder, die CDU-CSU-Fraktion steht geschlossen hinter der Ministerin.
Na, dann ist ja alles gut, wozu braucht´s da denn noch den Doktortitel!?
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Anverwandeln
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