1) Er ist sicher  DIE  Errungenschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der Tendenz gerecht, friedenssichernd, herzerwärmend. Fehleranfällig? Klar! Aber im Verbund mit dem demokratischen Rechtsstaat handhabbar. Dies jedenfalls, solange es gelingt, seine Eigendynamik im Griff zu behalten, die leider, wie alle Hypertrophien, den Keim zur Selbstvernichtung in sich trägt. 


Ein Beispiel, das zum Nachdenken anregt, bewegt im Moment unser Nachbarland, die Schweiz, die – was den Status ihres Sozialstaats anlangt – auf direkt-demokratischem Weg ziemlich genau da angekommen ist, wo sich auch die Bundesrepublik mit ihrem Repräsentativsystem  befindet: nämlich auf sehr hohem Niveau.
Spitzenplätze sind gefährlich, weil man von ihnen besonders tief fallen kann. Geschichten wie die folgende können diese Dynamik enorm beschleunigen. Weil sie, jedenfalls in der Optik des Normalbürgers, genau das Gegenteil von dem dokumentieren, was den Sozialstaat (in der Tendenz) ausmacht. Nämlich nicht gerecht sind, den sozialen Frieden nicht sichern helfen. Und das Herz erwärmen sie schon gar nicht.

2) „Carlos“, Sohn eines Schweizers und einer Brasilianerin, ist ein heute 18-jähriger Problembär. Bär (ohne den Vergleichsgrößen zu nahe treten zu wollen) jedenfalls dann, wenn man die Körperkräfte als Bezugspunkt nimmt. Denn Carlos ist ein Muskelmann, der nichts lieber möchte, als ein berühmter Thai-Boxer zu werden. Er erkannte das früh, und hat viel für seine Fitness getan. Allerdings hat er noch einiges andere getan: In den letzten 7 Jahren brachte er es auf 34 aktenkundige Delikte, darunter schwere und schwerste Gewalttaten. Seinen kriminellen Weg säumen etliche Opfer; ein 17-jähriger, dem er 2011 aus einem gewissen Unmut heraus das Messer in den Rücken gerammt hatte, leidet noch heute an den Folgen seiner schweren Verletzung. Dafür gab es 9 Monate Gefängnis und zusätzliche Therapiemaßnahmen. Zuvor hatte „Carlos“ bereits alle möglichen Institutionen der Läuterung von innen gesehen (20 x), aber bei niemandem den Eindruck hinterlassen, dass eine Läuterung stattgefunden hatte.

Das Schweizer Jugendstrafrecht (10 – bis 18-Jährige) gehört wohl zu den fortschrittlichsten seiner Art. Es ist nicht tat-, sondern täterbezogen und will dem Jugendlichen durch geeignete Maßnahmen bei der Integration in die Gesellschaft helfen. Ziel der gesetzlichen Bestimmungen ist Erziehung, Schutz und (Re-) Sozialisierung.  Aufsicht, ambulante Therapie, psychologische Betreuung und Schulung sind die Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Für Delikte, die von Jugendlichen begangen werden, kann sich die Maßnahme bis ins 22. Lebensjahr erstrecken. 
Da im Fall „Carlos“ alle zurückliegenden Reaktionen der Straf- und Maßnahmenjustiz ohne erkennbaren Erfolg verpufft waren, empfahl im Zusammenhang mit dem „Messerstecherfall“ ein psychiatrisches Gutachten die lückenlose Betreuung durch Sozialpädagogen. Der zuständige Zürcher Jugendanwalt  Hansueli Gürber – nicht weit von der Pensionierung entfernt – entwickelte daraufhin ein sog. Sonder-Setting: „…Eins-zu eins-Betreuung während 24 Stunden, begleitetes Wohnen, verbunden mit therapeutischen Maßnahmen sowie Lern- und Schulungselementen.“ Leider konnte er es sich nicht verkneifen, diese Gesamtpaket etwas selbstverliebt in einer ihm und seinem verdienstvollen Wirken gewidmeten Fernsehsendung  (Reporter) als Leistung der Jugendanwaltschaft, genauer: seines Verständnisses von dieser Funktion anzupreisen.

3) Eigentlich vorbildlich! Vom Jugendstrafrecht wird eben keiner aufgegeben. Leider hatte der Staatsanwalt weder Zeit noch Neigung (und wohl auch nicht die erforderliche Kompetenz), sein anspruchsvolles Konzept in die praktische Tat umzusetzen. Und so beauftragt er mit dem „Case-Management“ ein Unternehmen, das sich die Integration von jugendlichen Intensivtätern zum Geschäftsmodell erkoren hat: die Riesen-Oggenfuss-GmbH. Nach eigener Auskunft kann es bei diesem Vorhaben manch hübschen Erfolg verbuchen, und auch im Fall „Carlos“ hatte es – wiederum nach eigener Auskunft – seit gut einem Jahr schon einiges erreicht. Und so könnte es sich hier um eine richtig gute Geschichte handeln, wenn nicht in dem erwähnten Fernsehbeitrag auch die der Staatskasse entstehenden Kosten für das Sonder-Setting zur Sprache gekommen wären. Sie betragen nämlich 29 500 Sfr (ca. 25 000 Euro). Nein! Nicht pro Jahr! Pro Monat!


Kann nicht sein, denkt man – mehr fassungslos als erbost. Kann doch, sagt Frau Oggenfuss, und findet das auch völlig in Ordnung: „Ja, wir stehen voll und ganz zu diesen Kosten“ erklärt sie, vom Aufschrei des Steuerzahlers ungerührt, in einem in der NZZ vom 19. September erschienenen Interview. „Die Betreuung von ,Carlos‘  ist sehr anspruchsvoll, und das rund um die Uhr“. Das sei kein Wohlfühlvollzug. Man würde sogar ablehnen, offenbart sie treuherzig, wenn der junge Mann zu viel verlange, obwohl dies nicht immer leicht sei. Man habe es eben nicht mit „normalen“ Jugendlichen zu tun, sondern „mit straffälligen Problem-Jugendlichen“. Seine Anspruchshaltung habe Carlos intern schon den Spitznamen „Aber Sie…“ eingetragen: „Damit leitete er stets neue Forderungen ein … Er wollte so vieles. Aber selbstverständlich war es unsere Aufgabe, dagegenzuhalten und Nein zu sagen.“

4) Das scheint allerdings nicht immer geglückt zu sein. Z.B. nicht, als das Integrationsunternehmen dem jungen Mann, der eine Ausbildung zum Fitness-Trainer, aber auch jede andere Arbeit abgelehnt hatte, das ihn allein interessierende Thai-Box-Training spendierte. Unter dem Titel „Tagesstruktur“. Für monatlich 5 300 Sfr. Bei Shemsi Beqiri, einem hoch dekorierten Meister seines Fachs, der allerdings seinerseits wegen eines Gewaltdelikts – er prügelte einen Konkurrenten krankenhausreif – bereits vorbestraft war.
Zu den „Trainingskosten“ von „Carlos“ kamen weitere hinzu: 11 000 Sfr für zwei vollamtliche Sozialbetreuer, 1 800 Sfr für den Privatlehrer, 1 000 Sfr für „Elternarbeit“, dazu Taschengeld (640 Sfr) sowie eine weitere Pauschale für Freizeit/Wochenende (500 Sfr). Und  1 930 Sfr für eine Viereinhalb-Zimmer-Wohnung. Zu groß? Keineswegs! Für die mit „Carlos“ zusammenwohnende Betreuerin musste schließlich auch ein Zimmer bereitgestellt werden; ebenso für die Eltern, wenn sie zum Zwecke der Elternarbeit vorbeischauten. Das sind dann zwar immer noch nicht die kommunizierten 29 500, aber die Kosten-Liste ist nicht abschließend und dürfte jedenfalls noch einen nicht ganz kleinen Betrag für Riesen-Oggenfuss selbst enthalten.

5) Die Reaktionen der Öffentlichkeit auf dieses „Sonder-Setting“ fielen genau so aus, wie es auch dem Jugendanwalt Gürber bei minimalem Gedankeneinsatz hätte klar sein müssen. In sämtlichen Medien überboten sich professionelle Kommentatoren und empörte Steuerzahler in ihren Schmährufen. Leserbriefe zuhauf! Innerhalb kürzester Zeit füllten sich alte und neue Blogs mit Wutbürgerbeiträgen. Bewegende Schilderungen von Menschen, die von morgens bis abends schufteten und trotzdem nicht auf einen grünen Zweig kämen, machten die (veröffentlichte) Runde. Blitzumfragen ergaben für die Ablehnung von „Verwöhnstrafrecht“ fast Werte wie im alten Ostblock. Nach schärferen Gesetzen wurde gerufen. Zuweilen auch nach Arbeitslagern, in die neben dem Delinquenten auch gleich die Verantwortlichen und alle Verteidiger der „Kuschelpädagogik“ verbracht werden sollten.
Die Angesprochenen verharrten lange Zeit in Stille. Erst nach neun Tagen räumte die Justizdirektion mangelndes Fingerspitzengefühl, schließlich sogar Fehler ein. Vor allem solche der Staatsanwaltschaft. Das fragliche Interview hätte so nie gegeben werden dürfen. Künftig würden solche Fernsehauftritte nur noch mit Bewilligung stattfinden. Und in diese von der Politik aufgezeigte Kerbe schlägt auch der Oberjugendanwalt herzlich gern ein. Das Interview hätte er, wenn er nur Genaueres davon gewusst hätte, so niemals bewilligt. Er habe offenbar zu leichtfertig auf die langjährige Erfahrung des Herrn Gürber vertraut.
Der wiederum sieht sich um sein Lebenswerk betrogen. Die Medien hätten sachwidrig berichtet und ein wochenlanges Kesseltreiben gegen ihn ausgelöst. Sogar Morddrohungen hätten ihn erreicht. In Wahrheit sei der Fall Carlos eine Erfolgsstory. Schließlich habe der Jugendliche seit 14 Monaten deliktsfrei gelebt – nach mehr als sieben Jahren Dauerdelinquenz. „Dieser Weg hätte funktioniert“. Falsch sei nur – insofern gibt der Jugendanwalt seinen Vorgesetzten Recht – die Fernsehsendung gewesen. Die habe den Eindruck eines Luxus-Settings erweckt, wo doch nur Zweckmäßigkeit und Zielorientierung handlungsleitend gewesen seien. Genau genommen habe man sogar das Geld der Gemeinschaft gespart. Denn Haft oder Psychiatrie – die verbleibenden Alternativen – würden wesentlich teurer kommen.

6) Man kann mit dem tapferen Beamten Mitleid haben. Noch schlechter allerdings ist es „Carlos“ ergangen. Er wurde auf dem Gipfel des Medienhype von einer 8-köpfigen Polizeieinheit auf offener Straße verhaftet und unverzüglich ins Gefängnis gebracht (laut offizieller Stellungnahme „ohne Prellungen und Verletzungen“). Die irritierende Begründung  der Oberjugendanwaltschaft für diesen Überraschungscoup lautete: Durch die Medienaufmerksamkeit der letzten Tage sei der Wohn- und Aufenthaltsort von „Carlos“ bekannt geworden. „Zum Schutz des Jugendlichen und zur Sicherung der Massnahme wurde der Jugendliche durch die Jugendanwaltschaft geschlossen untergebracht.“ – Ein Schuft, der Böses dabei denkt !
Der Fall „Carlos“ hat damit sein viele befriedigendes Ende gefunden. Vorläufig. Denn es ist sicher kein Lesen im Kaffeesatz, wenn man vermutet, dass der Lebensweg dieses jungen Mannes auch künftig das öffentliche Interesse kreuzen wird. Von der Jugendanwaltschaft hört man, dass an einem „Anschlussprogramm“ gearbeitet werde. Dieses, angesichts der mutig geweckten Ansprüche des Schutzbefohlenen und vor den Augen einer misstrauisch gewordenen Öffentlichkeit, zum erwünschten Erfolg zu führen, dürfe nicht ganz einfach sein.
Zu hoffen ist immerhin, dass das Thai-Boxen künftig einen kleineren Raum in der Therapie einnimmt. Auch wenn die Idee der kanalisierten Aggression für Romantiker einen gewissen Reiz haben mag. Jedenfalls steht der Nachweis noch aus, dass notorische Gewalttäter durch ein Training, welches darin besteht, täglich stundenlang auf einen Ledersack einzuprügeln, konditioniert werden, künftige Konflikte im herrschaftsfreien Diskurs anzugehen.

7) Fehlt noch der link zum Sozialstaat. Hat er in Zürich gesiegt? Hat er verloren? Schwer zu beantworten. Denn einerseits ist das Schweizer Jugendstrafrecht mit seinem Ziel, nicht Schuld und Sühne zu verwalten, sondern dem delinquenten Jugendlichen Schutz und Förderung angedeihen zu lassen, eher der Jugendhilfe als dem Strafrecht zuzuordnen, tatsächlich eine Frucht sozialstaatlichen Denkens, und seine konsequente Umsetzung durch die zuständige Staatsanwaltschaft ist grundsätzlich zu begrüßen, nicht zu verdammen.
Das ändert aber nichts daran, dass die Verantwortlichen im Fall „Carlos“ versagt haben. Denn der Jugendarbeit im Strafvollzug wurde mit der haarsträubend unsensiblen Ausgestaltung des „Sonder-Settings“ sicher mehr geschadet als genützt. Die obwaltende Logik – Auftrag erfüllt, wenn Rückfälle ausbleiben, koste es, was es wolle – ist nicht nur nicht vermittelbar, sondern falsch. Wenn die „Therapie“ darin besteht, dem jugendlichen Straftäter alle (oder fast alle) Schwierigkeiten des Lebens aus dem Weg zu räumen und zudem noch die meisten Wünsche zu erfüllen (inklusive das Verlangen nach einem Armani-Deo), wird der Rückfall zwischenzeitlich zwar unwahrscheinlicher, dafür aber geradezu zwingend, sobald die Hilfe wegfällt (spätestens beim Kontakt mit dem Erwachsenenstrafrecht). Dem Erziehungsideal, ein künftig selbstbestimmtes Leben in der Rechtsgemeinschaft zu programmieren, wird mit realitätsausblendenden Sorglosprogrammen ein Bärendienst erwiesen, die Biographie des Jugendlichen eher belastet als unterstützt. Denn die Gesellschaft, in die er auf diese Weise integriert werden soll, existiert nicht. Und Kick-Boxen ist sicher keine geeignete soziale Technik, um sich den Lebensweg zu ebnen.

Carlos: «Immer wieder» werde er, «gegen Material und/oder Personen tätlich», schreibt das Obergericht. Illustration: Robert Honegger
 «Immer wieder» werde er «gegen Material und/oder Personen tätlich» (Obergericht).
Illustration: Robert Honegger


Noch schädlicher ist aber das beschriebene Szenario für die öffentliche Wahrnehmung von Sozialstaatsprogrammen im Allgemeinen und von strafrechtlichen Hilfs- und (Re-)Sozialisierungsprogrammen im Besonderen. Die politischen Kräfte, die den nationalen Bürger-Egoismus zu ihrem Ziel erhoben haben – in der Schweiz hat es die Partei, die mit der Ausgrenzung von Schwachen, Fremden und Abweichlern auf Stimmenfang ging, in den letzten Jahren zur stärksten politischen Kraft des Landes gebracht – diese Kräfte sitzen ohnehin in ihren rhetorischen Startlöchern. Ein Fall „Carlos“ ist die willkommene (und sofort genutzte) Steilvorlage, das Feindbild vom Verhätschelungssozialismus genüsslich auszumalen und zum Angriff auf das „lasche“ Jugendstrafrecht zu blasen. Schon hört man von Forderungen der rechtsnationalen SVP nach einem Untersuchungsausschuss und davon, dass die Mißstände im Jugendstrafvollzug endlich abgestellt werden müssten, „dem Tummelfeld von Sozialpädagogen und Gutmenschen“.
Das haben die Protagonisten des therapeutischen Ansatzes sicher nicht gewollt. Aber man kann von ihnen erwarten, dass sie nicht nur ihre Delinquenten integrieren, sondern ihr eigenes Handeln unter den Prüfgesichtspunkt der sozialen Kompatibilität stellen. Dann hätte es einen Fall „Carlos“ nicht gegeben.