Gastbeitrag von Jan Friedeborn

- Frankfurter Hells Angels und Genfer Hausbesetzer -

Das Recht abstrahiert vom Einzelfall. Daher bringt es manchmal Sachverhalte zusammen, denen man ihre Nähe nicht unbedingt ansieht. So fanden sich jüngst die Frankfurter Hells Angels und Genfer Hausbesetzer in einem rechtlichen Boot wieder.

Am 29. September 2011 verfügte das Hessische Ministerium des Innern und des Sports die Auflösung des in Frankfurt am Main ansässigen „Hells Angels MC Charter Westend“. Dieses wurde im November 1999 als nicht eingetragener Verein und damit als selbständiger Teil der 1948 in Kalifornien entstandenen weltweiten Hells Angels-Bewegung gegründet. Das Verbot und die Auflösung waren auf Artikel 9 Absatz 2 Grundgesetz und § 3 Vereinsgesetz gestützt.
Der Verwaltungsgerichtshof Kassel hatte im Februar diesen Jahres über die Rechtmäßigkeit des Vereinsverbots zu entscheiden (VGH Kassel, Urteil vom 21.02.2013 – Az.: 8 C 2134/11). Im Urteil bestätigte der VGH die Verbotsverfügung, weil er als erwiesen ansah, dass Mitglieder des Vereins Straftaten begangen hatten und diese auch dem Verein zuzurechnen waren.
Schon Artikel 9 Abs. 2 Grundgesetz als Verbotsgrundlage lässt erkennen, dass die Verbotsverfügung das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit betrifft und vor diesem standhalten muss. Die Vereinigungsfreiheit wird zudem durch Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) geschützt. Daher führte der Kläger gegen die Verbotsverfügung ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg ins Feld. Obwohl das Urteil nur in der französischen Originalfassung und nicht in der Gerichtssprache Deutsch vorlag, setzte sich der VGH mit dem Urteil auseinander, um einem Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung vorzubeugen.

Anders als in der Schweiz ist die EMRK in Deutschland nicht direkt anwendbar. sondern aufgrund eines Zustimmungsgesetzes, und hat den Rang eines einfachen Bundesgesetzes (vgl. Artikel 59 Absatz 2 Grundgesetz). Das Bundesverfassungsgericht hat aber im Fall Görgülü entschieden, dass deutsche Gerichte bei der Anwendung nationalen Rechts die Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen haben (BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 - Az.: 2 BvR 1481/04). Daher war eine Auseinandersetzung mit dem EGMR-Urteil verfassungsrechtlich geboten.

Das EGMR-Urteil erging am 11. Oktober 2011 gegen die Schweiz (EGMR, Urteil vom 11. Oktober 2011 – n° 48848/07 – Association Rhino et autres c. Suisse). Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Im Jahr 1988 gründete sich in Genf die „Association Rhino.“ „Rhino“ war ein Akronym sowohl für „Retour des Habitants dans les Immeubles Non Occupés“ (Rückkehr der Bewohner in unbewohnte Häuser) als auch für „Restons Habitants dans les Immeubles que Nous Occupons“ (Wir bleiben Bewohner in den Häusern, die wir besetzen). Darüber hinaus ist „Rhino“ die Kurzform für „rhinocéros“, zu deutsch Rhinozeros bzw. Nashorn. Der Zweck des Vereins bestand nach seiner Satzung darin, seinen Mitgliedern das Wohnen in günstigen gemeinschaftlichen Unterkünften zu ermöglichen. Die von den Mitgliedern besetzten Häuser sollten dem Immobilienmarkt und der Spekulation entzogen werden.
In einem der besetzten Häuser betrieb der Verein ein günstiges Restaurant, das ich aus eigener Anschauung kenne und das bei Austauschstudenten im Jahr 2006 sehr beliebt war. Es lag zentral in Genf und in Anspielung an den Namen „Rhino“ war ein überlebensgroßes rotes Nashorn an der Hausfassade angebracht. Dort gab es insbesondere günstiges Bier und einen abgewetzten Tischkicker. Der Verein organisierte zudem kulturelle Veranstaltungen.Zwischen 1978 und 1988 standen die drei von den Mitgliedern des Vereins besetzten Gebäude leer, da die Eigentümer sie nicht vermieteten. Am 9. November 1988 besetzten um die 50 Personen 14 Wohnungen in diesen drei Häusern. Wer die Wohnungslage in Genf kennt, weiß, dass die Verzweiflung groß ist, wenn es um Wohnraum geht. Noch dazu, wenn er bezahlbar sein soll. Die Eigentümer der drei besetzten Häuser forderten noch im Jahr 1988 vom Generalstaatsanwalt die Räumung der Häuser. Obwohl ein Urteil des Bundesgerichts vom Mai 1991 die Räumung verlangte, hat die kantonale Regierung die Räumung nicht vollzogen. Denn es war Verwaltungspraxis, ein Haus nicht zu räumen, solange die Eigentümer keine Bewilligung hatten, die Gebäude umzubauen oder zu modernisieren. Damit sollte spekulativer Grundbesitz bekämpft werden, wenn die Räumung nur zum Ziel hatte, die Gebäude weiter leer stehen zu lassen.
Von 1996 bis 2001 verhandelten die Hausbesetzer und die Eigentümer über einen Teilverkauf bzw. einen langfristigen Mietvertrag. Diese Verhandlungen scheiterten aber an den finanziellen Forderungen der Eigentümer.
Am 19. November 2005 verkündete der Generalstaatsanwalt die Räumung am 22. November 2006. Eine dagegen eingelegte Klage vor dem Verwaltungsgericht hatte Erfolg, weil die Eigentümer die Besetzung lange hingenommen hatten. Sie hatten ihr Recht verwirkt, mit staatlicher Gewalt sofort wieder in ihren Besitz eingewiesen zu werden, sodass nach Ansicht des Gerichts die öffentliche Ordnung durch die Besetzung nicht mehr verletzt gewesen sei. Vielmehr müssten die Eigentümer nunmehr ihre Rechte zivilrechtlich durchsetzen. Dieses Urteil bestätigte das Bundesgericht am 22. Juni 2006.
Zur gleichen Zeit stellten die Eigentümer beim Gericht erster Instanz des Kantons Genf den Antrag, den Verein der Hausbesetzer aufzulösen, da dieser einen illegalen Zweck verfolge. Der Vereinszweck sei darauf gerichtet, die Ausübung ihrer Eigentumsrechte zu verhindern. Das Gericht erster Instanz urteilte am 9. Februar 2006, dass der Verein mit sofortiger Wirkung aufgelöst sei. Der Gerichtshof des Kantons Genf bestätigte am 15. Dezember 2006 das Urteil, jedoch mit der Maßgabe, dass der Verein rückwirkend nie existiert habe. Das in öffentlich-rechtlicher Angelegenheit angerufene Bundesgericht bestätigte am 10. Mai 2007 die beiden vorinstanzlichen Urteile.
Am 24. Mai 2007 informierte die Bauaufsicht die Eigentümer, dass sie die Gebäude wieder in einen bewohnbaren Zustand versetzen müssten. Am 26. Juni 2007 wurde vom Gericht erster Instanz ein Liquidator eingesetzt. Am 3. Juli 2007 wurde das Räumungsverfahren jedoch wieder unterbrochen, weil einzelne Hausbesetzer die Existenz eines mit den Eigentümern stillschweigend abgeschlossenen Mietvertrags gerichtlich geltend machten.
Am 23. Juli 2007 schließlich erlangten die Eigentümer wieder den Besitz, nachdem die Polizei eine Identitätskontrolle der Hausbesetzer mit vorläufigen Festnahmen durchgeführt und die Besetzer zurückgewiesen hatte. Zudem wurde von der Bauaufsicht die Renovierung der Gebäude angeordnet, was die Eigentümer berechtigte (und verpflichtete), die Gebäude wieder in Besitz zu nehmen.

Der hiergegen angerufene EGMR hat in der Sache einstimmig entschieden, dass die Auflösung des Vereins unverhältnismäßig war. Sie sei im Sinne des Artikels 11 Absatz 2 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen, sondern hätte den Kern der Vereinigungsfreiheit tangiert. Insbesondere wegen der langjährigen Duldung der Besetzung durch die Behörden habe die Schweizer Regierung nicht ausreichend dargelegt, dass es keine milderen Mittel gegeben habe, um das von den Behörden verfolgte Ziel zu erreichen. Zudem sei die Auflösung ungeeignet gewesen, den Eigentumsanspruch der Eigentümer zu realisieren..
Richter Pinto du Albuquerque hat ein zustimmendes Votum verfasst, wonach. als milderes und damit verhältnismäßiges Mittel nur eine Teilnichtigkeit der rechtswidrigen Bestimmungen der Vereinssatzung in Betracht komme... Er hat insbesondere sein Unverständnis darüber zum Ausdruck gebracht, dass die Schweizer Behörden fast zwanzig Jahre gebraucht haben, um zu der Ansicht zu gelangen, dass ein Verein, der zwischenzeitlich vielfach am Rechtsverkehr teilgenommen hat, nie existierte.

Den Antrag, das Verfahren vor der Großen Kammer des EGMR mit 17 Richtern zu verhandeln, hat eineKammer mit fünf Richtern am 8. März 2012 abgelehnt. Damit ist das EGMR-Urteil an diesem Tag rechtskräftig geworden.

Gegen das EGMR-Urteil hat der frühere Richter am Schweizer BundesgerichtMartin Schubarth - er ist 2003 im Zuge einer sogenannten „Spuck-Affäre“ zurückgetreten, nachdem er einen NZZ-Korrespondenten angespuckt hatte - polemisch gewettert (NZZ vom 13.05.3013: Schweizerische Demokratie oder Straßburger Richterherrschaft). Auf der anderen Seite wurde das Urteil von Rechtsanwalt Ludwig A. Minelli verteidigt, der die Schweizerische Gesellschaft für die Europäische Menschenrechtskonvention gegründet hat (NZZ vom 17. Mai 2013: Kein neues Menschenrecht erfunden).

Die Frankfurter Hells Angels fanden sich nun vor dem VGH Kassel in derselben Situation wie einst die Genfer Hausbesetzer. Ihr Verein wurde von einer staatlichen Behörde aufgelöst und sie wollten, dass das Gericht diese Entscheidung revidiert.
Der VGH Kassel hat die im EGMR-Urteil aufgestellten Rechtssätze in seinem Verfahren jedoch nicht angewendet. Denn im Gegensatz zum Fall aus Genf haben die deutschen Behörden die massiven Rechtsverstöße der Hells Angels in Frankfurt nicht tatenlos geduldet. Vielmehr sind die Strafverfolgungsbehörden seit Gründung des Vereins konsequent gegen Straftaten der Mitglieder vorgegangen. Einen im Fall langjähriger Duldung rechtswidrigen Verhaltens ausnahmsweise eröffneten Ermessenspielraum der Verbotsbehörde habe es im Fall der Hells Angels daher nicht gegeben.

Das Recht bringt manchmal sehr unterschiedliche Sachverhalte zusammen. Im Fall der Frankfurter Hells Angels und der Genfer Hausbesetzer waren die Unterschiede aber doch größer als die Gemeinsamkeiten. Der Versuch der Frankfurter Hells Angels, sich mit dem EGMR-Urteil gegen die Auflösung ihres Vereins zu wehren, war daher ein Kampf auf verlorenem Posten.