Die spinnen, die... 

Was hätte der dicke Gallier wohl gesagt, wenn er letzten Sonntag die Ergebnisse der 1:12-Initiative in unserem alemannischen Nachbarland zu Kenntnis genommen hätte?

Mit fast Zweidrittelmehrheit (65 %) haben dort die Eidgenossen eine Volksinitiative abgeschmettert, die durchsetzen sollte, dass Topverdiener in einem Unternehmen nicht mehr als höchstens 12 x so viel Lohn beziehen dürften wie der am schlechtesten bezahlte Mitarbeiter. Das war gewiss ein umstürzlerischer Vorschlag, den sich die Jungsozialisten da ausgedacht hatten. Denn auch wenn man berücksichtigt, dass selbst Putzhilfen in einem mittelgroßen Schweizer Betrieb selten mit weniger als 4000 Franken monatlich (ca. 3200 Euro) nach Hause gehen und Aldi-Schweiz mit einem „Mindestlohn“ von 4200 Sfr. um Mitarbeiter an den Regalen wirbt (Lidl-Schweiz: 4000 Sfr.), würde etwa Brady Dougan, der CEO der Großbank Credit Suisse, kaum mit dem für ihn abfallenden Hungerlohn zufrieden sein. Zwar sind die Zeiten, da er sich über ein 71-Millionen Jahressalär freuen durfte, vorbei (so im Krisenjahr [!] 2009), doch auch jetzt beträgt seine Entschädigung noch das 1.812-fache des tiefsten Gehalts in der Bank, und er ist, wie etliche Genies in vergleichbarer Lage, durchaus der Meinung, dies auch wert zu sein.

Die Schweizer Jusos waren anderer Meinung, und obwohl ihrem alpenländischen Umfeld das Revolutionäre traditionell eher abgeht, hatten sie im speziellen Fall doch guten Grund zur Annahme, dass ihr Vorstoß beim Schweizer Volk auf breite Sympathie stoßen würde. Denn für die 1:12-Initiative war das Feld gut vorbereitet. Hatte doch erst im März die Volksinitiative des Ständerats Minder (die sog. Abzocker-Initiative) mit 67,94 % Ja-Stimmen einen sensationellen Annahme-Erfolg verbuchen können. Dabei war es auch damals um nichts anderes als die Deckelung der Managergehälter, also um nahezu den gleichen Gegenstand gegangen. Bei dem neuen Vorstoß war zwar nicht das Aktienrecht sedes materiae, sondern die allgemeine Lohngestaltung in den Unternehmen, aber der Ausgangs- und Kristallisationspunkt beider Initiativen, die Auflehnung gegen selbstgewährte Phantasiesummen in den Teppichetagen, war exakt gleich, und der Beobachter reibt sich erstaunt die Augen, wenn er die beiden Abstimmungs-Ergebnisse miteinander vergleicht.

An den jeweils ausgetauschten Argumenten pro und contra kann es nicht gelegen haben. Die waren – bei allen technischen Unterscheidungsmerkmalen – in der Stoßrichtung nahezu identisch: Gegen die Abzockerinitiative wurde vorgebracht, dass das Vorhaben der Schweizer Wirtschaft schaden würde, weil es kaum möglich sein dürfte, für die international operierenden Konzerne (davon hat die Schweiz etliche), auf dem Weltarbeitsmarkt Spitzenpersonal zu rekrutieren, das für deutlich weniger Lohn deutlich mehr Handlungseinschränkungen und – etwa für den Fall des Zuwiderhandelns gegen Gehaltsvorgaben – sogar international singuläre Strafandrohungen akzeptieren würde. Gegen die 1:12-Initiative wurde – ohne Konzentration auf Aktienrecht – nicht weniger plausibel das gleiche ökonomische Katastrophenszenario entworfen. Für die jeweiligen Vorstöße bot sich an, die soziale Gerechtigkeit ins Feld zu führen, die Obszönität gewisser Salärstrukturen und die Sorge, dass die allgemeine Unruhe gegen Lohnexzesse nur allzu schnell in soziale Unruhe umkippen könnte. Man sollte also meinen, die beiden Initiativen hätten cum grano salis ins gleiche Alphorn gestoßen und deshalb auch ein gleiches Schicksal verdient.  

So war es aber gerade nicht (s.o.). Weshalb der Souverän in seiner direktdemokratischen Weisheit das eine mal so und das andere mal ganz anders entschieden hat, lässt sich nur schwer sagen. Optimisten könnten ihm einen ungemein entwickelten ökonomischen Sachverstand unterstellen, der die – bei genauem Hinschauen – immerhin sichtbaren Unterschiede in den Konsequenzen der beiden Vorstöße erschlossen und das Abstimmungsverhalten streng rational gesteuert hat. Realisten werden dies nicht zu hoffen wagen. Die Materie ist – jenseits des emotionalen Zugangs – äußerst komplex und wird selbst von Experten nur punktuell durchschaut. Wer die schlichten, ärgerlich populistischen oder polemischen Parolen des jeweiligen Abstimmungskampfes vernommen hat, darf Zweifel hegen, ob wirklich das fein abgewogene Sachargument hinter dem jeweiligen Stimmverhalten der Bürger stand. Wahrscheinlicher ist, dass es eher die „weichen“ Faktoren waren, die den verblüffenden Unterschied der Abstimmungsergebnisse ausmachten.

Die „Abzocker-Initiative“ führt schon in ihrem Namen ein klares Programm. Wer wollte dieser miesen Spezies Mensch nicht gern eins auswischen.
„1:12“ klingt hingegen kühl und technisch. Um Emotionen zu entfalten, muss man erst mal nachrechnen.
Der Initiant im ersten Fall war Thomas Minder. Ein respektabler Kleinunternehmer und mittlerweile Ständerat, der sich im dunklen Anzug zwar, jedoch anders als man es von einem Mitglied des Establishments erwartet, tapfer und einsam gegen die Reichen und Mächtigen stemmt.
Im zweiten Fall waren es die Jusos. Dubiose Gestalten, nicht unbedingt die Typen, denen man Sohn oder Tochter und schon gar nicht die Geschicke der Schweizer Wirtschaft anvertrauen möchte.
Die einzige nennenswerte Institution, die sich gegen die Abzocker-Initiative ins Zeug gelegt hatte, war economiesuisse, der Dachverband der Schweizer Wirtschaft. Der Verdacht, dass der pro domo sprach, wenn er sich gegen eine Begrenzung der Managergehälter verwahrte, war so naheliegend, dass er gar nicht ständig von den Verfechtern der Initiative hätte wiederholt werden müssen. Sein Lamento klang so glaubwürdig, wie das konzertierte Jammern der deutschen Auto-Bosse Winterkorn (VW), Reithofer (BMW) und Zetsche (Daimler) – sämtlich Empfänger mannigfacher Millionen – gegen einen Mindestlohn von Euro 8,50.
Bei 1:12 hingegen war auch der Gewerbeverband aufgewacht. In allen Medien kamen redliche Mittelständler zu Wort, die ein Ende des Schweizer Wohlstands für den Fall verkündeten, dass die Initiative angenommen werden würde. Und es wurden alle Register gezogen: Abwanderung ins Ausland getrauten sich zwar nur die Abgebrühten anzudeuten, weil das vielleicht patriotische Trotzreaktionen mobilisiert hätte. Aber im Übrigen kam das gesamte Arbeitgeberfolterwerkzeug zur Sprache, das auch der deutschen Szene gut vertraut ist: Leiharbeit, Werkverträge, Scheinselbstständigkeit.

Wie ernst die Drohungen gemeint waren, wird man nicht erfahren, muss man auch nicht, denn sie haben ihre Schlagkraft ja präventiv entfaltet. Vielleicht war an den Argumenten ja wirklich etwas dran, und die Schweiz wäre über kurz oder lang bankrott gegangen. Wahrscheinlich ist das nicht, aber die Frage kann getrost offen gelassen werden. Denn jedenfalls kann eine Lehre aus dem Abstimmungsspektakel mitgenommen werden: Die direkte Demokratie, um die wir unsere Nachbarn so häufig und teilweise durchaus zu recht beneiden, ist im Zeitalter der unbegrenzten Information, das eben auch ein Zeitalter der Informationsverweigerung und nicht selten auch der unbegrenzten Desinformation ist, ein fragiles Pflänzchen geworden, welches nicht nur reife Früchte trägt. Wird es mit Populismus und Klassenkampfparolen gedüngt, wird z.B. das irrationale Ziel der Abstrafung einzelner Gierschlunde über die kühle Bewertung gesamtgesellschaftlichen Nutzens gestellt, kann leicht ein verwüstetes Feld zurückbleiben. Von diesem ist die Schweiz zum Glück noch weit entfernt. Sieht man aber, wie das als rar gedachte und in der Vergangenheit auch selten gebrauchte Gut der Volksinitiative (die sich übrigens immer auf eine Verfassungsänderung [!] bezieht), seit kurzem von den politischen Akteuren als Instrument des täglichen Meinungskampfes eingesetzt, man darf ruhig sagen missbraucht wird, wird die Minarett-Initiative von der (unmittelbar bevorstehenden) Masseneinwanderungsinitiative, die Abzocker- und 1:12-Initiative von der (bereits eingeleiteten) Mindestlohninitiative und diese wiederum von dem Vorstoß für ein bedingungsloses, d.h. gegenleistungsfreies Grundeinkommen (2 500.-Sfr.) gejagt, so könnte das Bild von der (Verfassungs-)Verwüstung aus dem Bereich der Nachtmahre in den Bereich der Realität rücken. Der bekannte schweizerische Pragmatismus möge unsere sympathischen Nachbarn davor bewahren.