Metro in MoskauMetro in Moskau
Apriltsi in Bulgarien. Ein unbekannter Ort im Zentralbalkan. Es ist heiß. 18h30 und 29°C. Ich stehe vor dem „Panorama“-Hotel. Ein großer Kasten. Grau. Verwitterter sozialistischer Charme. Obwohl die Saison noch nicht zu Ende ist völlig leer. Das erbetene Zimmer wird mir mit einer Miene angeboten, als habe man sich für dieses Angebot allerhand Schwierigkeit einhandeln müssen.

Da fällt mir Igor ein. Igor Čičurov. Russe und Byzantinist. Er fällt mir so plötzlich, so warm und so heftig ein, dass ich mich frage, ob er nicht neben mir steht. Dabei ist er schon lange tot.


Ermordet in der Moskauer U-Bahn. Vermutlich war es ein „Unfall“. Er sollte nur betäubt werden. Im Blut fanden sich KO-Tropfen. In den letzten Jahren trank er etwas viel, außerdem hatte er ein schwaches Herz. Die KO-Tropfen waren zu viel.

Seinen Räubern dürfte das gleichgültig gewesen sein. Sie ließen ihm nur seine Hose. Barfuß und hemdlos saß der Professor für Byzantinistik, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, an der Endstation der Metro im letzten Wagen.

Aber es war nicht dieses letzte schreckliche Bild, welches ich mir von Igor mache, was ihn zurückbrachte. Was ihn rief, war das leere Hotel. Ein Hotel, in das man scheinbar nur mit besonderer Fürsprache gelangen konnte.

Ein leeres Restaurant in Moskau. Breitbeinig steht der Aufpasser, Wächter, Portier vor der Tür und verkündet mit steinerner Miene, dass kein Tisch frei sei. Die westliche Fassungslosigkeit kann Igor lächelnd verstehen. Er schiebt sich vor mich und beflüstert den Wächter. Eindringlich. Es dauert ein bisschen, aber das Steingesicht zerfällt langsam in mürrische Streifen. Nach einigen Minuten hat es sich zur Servilität dekomponiert.

Wir treten ein. Ich esse ein köstliches, zwischen schweren Eisentellern zu Pfannkuchenform zusammengepresstes und gebackenes Hühnchen. Nie wieder habe ich ein solches Hühnchen gegessen.

Wir debattieren über unsere nächsten byzantinistischen Pläne. Bereiten eine Reise von Igor nach Frankfurt vor. Das war lange Zeit ganz ausgeschlossen. Aber das Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte profitiert von dem Weltklang des Namens Max Planck und von den Ruhmestaten und Erfolgen der Naturwissenschaftler der Gesellschaft. Dass es sich bei meiner Einladung um die eher bedeutungslose Rechtsgeschichte handelt, von der für die Reproduktion der Menschheit keine sonderlichen Beiträge zu erwarten sind, fällt den Betonköpfen in der bürokratischen Moskauer Genehmigungsmachinerie nicht auf.

Igor darf reisen. Zunächst unter Bewachung durch allerlei Funktionäre. Nette Finsterlinge vom Typ „Jelzin“. Sie tauen schnell auf. Es muss nicht immer Wodka sein. Weißwein aus der Pfalz ist auch eine gute Medizin. Man befreundet sich. Und später in Moskau haben wir nachgeholt, was die Pfalz so nicht bieten konnte.

Igor ist brav. Er wird Parteisekretär, darf jetzt auch allein in die BRD und ich kann noch zweimal in das eisenharte Moskau reisen, bevor dort Gorbatschow den Panzer zertrümmert. Und jedes Mal habe ich wieder und mehrfach das bizarre Erlebnis, dass mir ein leeres Restaurant, ein anscheinend einladend winkende Gaststätte, bedeutet, sie sei völlig besetzt, ausgebucht, überfüllt bis Igor flüstert und wir dann gemeinsam oder zu Dritt oder zu Viert speisen können.

Gorbatschow hat diese Seiensweise und viele andere zerstört. Im postkommunistischen Moskau fallen mir die Kellner vor die Füße wie überall. Man tritt ein, setzt sich an einen Tisch und wird bedient. Die wuchtigen Herren aller Tische sind verschwunden und mit ihnen ihre steinerne Würde.

Im bulgarischen Apriltsi hat mich noch ein letztes Mal ein ferner, feiner Hauch der alten sowjetischen Herrschaft angeweht, aber Igor, der längst entschwundene, wurde nicht benötigt.