Dieter Grimm


Dieter Grimm hat kürzlich in Berlin an der Humboldt Universität einen Vortrag gehalten. Sein Titel: Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften. Ein Déjà-vu denke ich und beeile mich dem befreundeten Redner zu lauschen.



Rechtswissenschaften und Nachbarwissenschaften
1973 hat er unter diesem Titel im seinerzeit hochverdienten Athenäum-Verlag einen ersten Band mit Essays über Rechtswissenschaft und ihre Nachbarn herausgegeben. Der erschien dann 1976 in (unveränderter) 2. Auflage zusammen mit dem 2. Band als Nummer 142 (Band 2 = Nr. 143) in der Beck’schen schwarzen Reihe und kann dort heute noch erworben werden.

1973 - 1976! - was für eine Zeit. Die Grimmsche Tat wurde damals in Frankfurt - politisch gesehen - als rechtsliberaler Akt wahrgenommen, mit dem sich der Autor zugleich von linken Rechtskritikern vom Schlage Wiethölter absetzte als auch Distanz aufnahm zu den konservativen Unglaubwürdigen wie etwa seinem Lehrer Coing.

Wie mochte diese Haltung heute aussehen? Hat Grimm inzwischen einen neuen Weg zu den Nachbarn entdeckt? Zeigt seine ebenso unverdrossene wie argumentenarme Verteidigung der Jurisprudenz als Wissenschaft inzwischen vielleicht Risse? Nein. Es war alles noch so wie zwischen 1973 und 1976. Natürlich sind Globalisierung und Internationalisierung auch an Grimm nicht spurlos vorübergegangen. Es gibt schönes Dekor und reife Hinweise zu den Änderungen und Provinzialisierungsschüben, die die „Macht in der Mitte“ erlebt hat. Aber im Kern war die Botschaft die alte. Grimm steht dort, wo er seinerzeit stand. Nur die Republik hat sich nach rechts verschoben, so dass er jetzt noch liberaler glänzt. Da die Rechtswissenschaft als Wissenschaft sich offenkundig nicht von sich aus und allein zur WAHRHEIT bewegen kann, müssen interdisziplinäre und transdisziplinäre Hilfskräfte mobilisiert werden, um ihre Defizite vielleicht auszugleichen. Und um das Tor für die Einfuhr der Hilfsmittel möglichst weit und geräuschlos zu öffnen, gibt es nur ein Mittel: Grundlagenfächer, Grundlagenfächer!!

Dagegen kann man nichts sagen - und alle Rechtshistoriker, Rechtssoziologen, Rechtstheoretiker, Rechtspsychologen, Rechtsphilosophen stimmen diesem Befund seit eh und je jubelnd zu. Ich auch. Viel geholfen hat es nicht. Jurist - und ein erfolgreicher dazu - kann man auch ohne Grundlagen werden. Weswegen viele Studierende sich gar nicht erst der Mühe unterziehen, einen Blick auf die „Grundlagen“ zu werfen.

Aber würde dies etwas ändern? Wie, wenn man z.B. zwangsweise die Interdisziplinarität verordnete? Wenn man so oder ähnlich nicht nur einige Hundert, die sich von einer Handvoll Unverdrossener anstecken lassen, zum Blick über den Tellerrand bewegte, sondern ALLE?

Ich habe meine Zweifel. Die Klagen der meisten Grundlagen-Prediger, die vortragen, daß sie trotz der ihnen jahrzehntelang von allen Seiten gewährten Streicheleinheiten bei Jung und Alt, bei Dogmatik und Praxis nur auf geringes Interesse stoßen, scheinen doch anzudeuten, daß der Wurm nicht in der fehlenden Interdisziplinarität steckt, sondern in der Autonomie der Disziplin selbst, die die Grundlagen abschüttelt, wie ein nasser Hund das Regenwasser. Als Argument benutze ich inzwischen das lehrreiche ZDF-Info-Stück über den Fall Rupp: (http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/2308932/Der-Fall-Rupp?bc=svp;sv0#/beitrag/video/2308932/Der-Fall-Rupp)

Rudi Rupp


Der Kasus ist vermutlich auch Nichtjuristen bekannt. Rudi Rupp, ein bayerisches Bäuerlein von der eher unsympathischen Sorte ist 2001 spurlos verschwunden und wird im effektiven Zusammenwirken von Polizei, Nachbarn und Justiz als ermordet diagnostiziert. Mit Latte und Hammer massakriert, zerlegt, gekocht und als billiger Hundefraß vom bayrischen Erdboden so restlos vertilgt, daß weder Haut, noch Haar noch Blut je wieder entdeckt werden konnten. Die ganze Familie (Mutter Hermine, Tochter Andrea, Tochter Manuela und deren Verlobter, der Alkoholiker Matthias) war nach gemeinsamer Instanzenansicht an der Bluttat beteiligt. Die „Täter“ gestehen nach und nach immer grausigere Details und wandern zur Befriedigung von Nachbarn, Polizei und Justiz dahin, wohin sie fraglos gehören: auf lange Zeit ins Gefängnis.

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Alles gut, Rechtsfriede hergestellt, Gerechtigkeit gewahrt usw. - bis das Bäuerlein wieder auftaucht. Aus den Fluten der Donau, am Steuer seines Mercedes. Unverzehrt und, soweit man das nach jahrelanger Wässerung noch feststellen kann, auch unversehrt.

Dumm gelaufen für Nachbarn, Polizei und Justiz, denkt man. Ein bayerisches Spezialstück? So recht plausibel ist das nicht. Sicher, in Bayern ist vieles anders als im Rest der Republik. Da gibt es die CSU, Gamsbärte am Hut, Weißwurst, Lederhosen, Seehofer und etliches mehr, mithin Vieles, was auf den größten Rest der Republik fremdartig, bizarr, abartig, unverständlich, dumm wirkt. Aber die Juristen aus Bayern haben, wie auch das bayrische Abitur, einen guten bis sehr guten Ruf. Ihre Ausbildung ist differenziert, die Grundlagenangebote sind üppig, die Examina streng.

Wie also sind sie zu solcher Schandtat gekommen? Was haben sie sich gedacht und was denken sie jetzt? Sie sind doch letztlich die Täter dieser Untat und mussten - wenn auch zögerlich und bei weitem nicht ohne äußeren Druck - ihre Verbrecher wieder aus dem Gefängnis entlassen und werden sie womöglich - hier fließt bayrischer Angstschweiß - sogar entschädigen müssen

Lassen wir das Landsmannschaftliche beiseite, indem wir unterstellen, daß überall Bayern ist; vergessen auch die Nachbarn, die sich wie anderswo als boshaft und schwatzhaft entpuppen; übergehen schließlich die Polizei, die wie sonst und bei uns nicht selten eher rechtsstaatlich und jedenfalls hartnäckig auf vorgefassten und vorgezeichneten Spuren hetzte, bis die „Geständnisse“ protokolliert waren. Betrachten wir die, die das Recht hergestellt haben: die Richter und Staatsanwälte.

Drei Subjekte, die einst gewiss auch Objekte der Grundlagenfächer gewesen sein werden, tauchen auf dem ZDF-Video auf. Der Vorsitzende (Georg Sitka) aus dem ersten Prozess (am Landgericht Ingolstadt), Theo Ziegler, Vorsitzender im Verfahren vor dem Landgericht Landshut und Oberstaatsanwalt Christian Veh, der das Verfahren, dessen lehrreiche Windungen der Kürze halber auf sich beruhen sollen, über weite Strecken begleitet hat.

Wie stehen diese drei Männer, diese Volljuristen und wohlausgebildeten Rechtsmänner zu dem Debakel, das sie angerichtet haben?

Nur relativ kurz kann man Richter Sitka sehen. Ein durchaus sympathischer Mann, mit offenem Hemd und jungenhaftem Lächeln. Auf keinen Fall möchte er jemanden zu Unrecht verurteilen, sagt er und lächelt einnehmend. Man glaubt es ihm. Freilich: gibt es überhaupt hierzulande Richter, die jemanden zu Unrecht verurteilen möchten? Und getan hat er es schließlich doch. Ja, schon - Sitka signalisiert Mitgefühl. Die ganze Sache sei ein „Supergau“ des Verfahrens, zweifellos - und „vor allem für die Betroffenen“. Das schon. Aber für ihn persönlich handele es sich um einen Fall von menschlicher Schwäche, mit der wir alle behaftet seien. Weswegen wir für Irrtümer anfällig seien und ihnen gelegentlich unterlägen, (wer wollte das bezweifeln?); beruflich sei der Fall demnach für ihn „kein Supergau“.

Das eben ist das Drama. Gerade hier, im unauffälligen Wörtchen „beruflich“, liegt er, der „Supergau“. Schließlich hat Sitka genau gemerkt, worin das Zentralproblem des Falles bestand. Worauf freilich auch jeder Laie sofort kommt, wenn man ihm die Fakten schildert:

Wieso haben die 4 Tatverdächtigen (allesamt „minderbegabt“ und mit einem IQ zwischen 50 - der Grenze zur Imbezillität - und 70) die scheußliche Tat überhaupt gestanden? Woher nahmen sie die detaillierten Schilderungen, wie sie den bankrotten Bauer erschlagen, weggeschleppt, zersägt und seinen Kopf im Schlachtkessel zerkocht haben, weil er dann besser auseinandergeht, wenn dies alles jeglicher Realität entbehrte? Das kann man doch nicht erfinden! Es sei denn, jemand hat nachgeholfen.

Dieser Einfall kommt auch dem wackeren Richter Sitka. Da die verstockten Angeklagten, die ihr Geständnis widerrufen haben, nicht erneut gestehen wollen, besieht er sich aufmerksam die Videos, welche die Polizei zur Rekonstruktion des erfundenen Verbrechens aufgenommen hat. Er kann dort aber keine Personen entdecken, die für die Entstehung einer „Zwangslage“ verantwortlich zu machen wären. Es herrscht eine „gelassene Stimmung“, ein eher „gelöster Eindruck“, sogar „manchmal Fröhlichkeit“. Das jedenfalls sei schon ein „starkes Indiz“ für seine Ansicht gewesen, daß die Aussage freiwillig gemacht wurde und nicht etwa von dem angeblichen Kopfkoch-Täter Matthias erfunden wurde.

Auf solche Armseligkeit von Reflexion stützt sich also ein Urteil, das die Betroffenen für viele Jahre ins Gefängnis brachte. Wozu gibt es die Rechtspsychologie? Zu welchem Zweck füllen die Psychologen dicke Bücher mit Demonstrationen und Erwägungen, wie es zu falschen Geständnissen kommt, sagen uns Soziologen, wie man eine „Zwangslage“ aufbauen kann, ohne daß sich auch nur ein einziger Folterknecht zeigt?

Es ist die redliche, die blanke Ahnungslosigkeit von den Grundlagen seines Berufs, weshalb der Richter Georg Sitka „beruflich“ keinen „Supergau“ erkennen kann. Die Zuversicht der Beschränktheit. Sancta Simplicitas ist da für den, der niemanden zu Unrecht verurteilen möchte, gewiss noch eine zu schmeichelhafte Bewertung.

Der zweite Juristentäter ist demgegenüber ein weniger trauriger Fall. Weil man keine enttäuschten Schein verarbeiten muss. Weil man erhält, was man erwartet. Der Täter heißt Christian Veh. Wohlgenährt, ausrasiertes, glattes, nicht von Gedankenqual zerfurchtes Gesicht, temperamentvoll, typologisch lebemännisch eher als weltmännisch, steckt er in tadellosem dunklem Anzug mit blauer Krawatte, vermutlich nicht unattraktiv (bedürfte weiblicher Prüfung) und ist Oberstaatsanwalt.

rupp3Bei Christian Veh ist das Defizit besonders ausgeprägt und es war ziemlich schädlich für die Familie Rupp. Auch heute noch zeigt Veh sich „felsenfest“ davon überzeugt, daß Rupp nach Hause kam und dort von seiner Familie erledigt wurde. Heftig unterstreicht seine kugelschreiberbewehrte Hand jedes dritte Wort; mit hoch ausholender Geste zieht seine Rechte die Wahrheit aus dem staatsanwaltlich reflexionsarmen Himmel. Irrig waren lediglich die abenteuerlichen „Feststellungen“ über die „Entsorgung“ der Leiche mittels eines Schlachtkessels und Hunden. Das „hat nicht gestimmt“ lacht er vergnügt, „zwangsläufig“! Aber daß der Bauer nach Hause gekommen war, das haben schließlich alle gestanden. Weiß der Teufel, wie er dann ermordet mit seinem Auto in die Donau kam.

Ob er mit dem Gang derDinge nicht ein Problem habe, will die arglose Journalistin wissen. Veh ist fassungslos. Keine Spur von Nachdenklichkeit. „Ein Problem?“ Das doch nicht. „Nö, wieso ein Problem?“. Er könne doch „ein Geständnis nicht ignorieren“. Solle er etwa sagen „das glaube ich nicht“? Dass er etwas hinterfragen könne, kann er nicht denken. Schließlich sei die Realität doch häufig irrer als jede Phantasie. Und die massiven Widersprüche in den Aussagen, die sehe er SO nicht. Es mache sich vielmehr jetzt, nachdem der Rupp wieder aufgetaucht sei, derjenige die Sache zu einfach, der sage, diese „Blödel“ hätten einige angeklagt „und hinterher stellt sich heraus, es war alles Unfug“.

Schwer zu verkraften dieser deprimierende Auftritt. Über das Geständnis, seine Funktion und sein Zustandekommen gibt es von Rechtshistorikern, Soziologen und Psychologen seit Jahrzehnten Dutzende von genauen, interessanten und aufklärenden Untersuchungen. Wenn Veh davon eine auch nur oberflächliche Ahnung hätte, würde er sich unbändig freuen, wenn seine Zuschauer beim „Blödel“ blieben.

Das übelste Produkt der deutschen Juristenausbildung ist freilich der Richter Theo Ziegler. Blass und smart, mehr asketisch als schneidig, randlose Brille, der fleischgewordene Justizsyllogismus. Auch er ist, freilich ohne es (wie der fesche Oberstaatsanwalt) zu sagen, felsenfest davon überzeugt, daß die Familie Rupp ihren Rudolf ins Jenseits befördert hat. Schließlich hat er „festgestellt“, daß Rupp nach Hause kam und dass dort „von einem oder mehreren oder allen eine Ursache gesetzt wurde“, die zum Tod des Bauern führte. Freisprechen musste er nach Auftauchen des Verblichenen schließlich nur, weil es ihm nicht gelang, nachzuweisen, „wer die Ursache gesetzt hat und wie sie aussah“. Hinter einer reglos unbeteiligten Miene schnurrt die Subsumtionsmaschine. Der Schädel kann nicht eingeschlagen worden sein, sagen die Gutachter - aber der Hals war der Leiche schließlich abhanden gekommen. Vielleicht haben sie dem Alten die Kehle durchgeschnitten oder ihn erdrosselt, gibt der in Fallvariationen Erprobte zum Besten. Aber auch daß der „Tathergang“ einen Schlag mittels Kampfholz ins Genick möglich erscheinen ließ, scheint dem Phantasten plausibel. Völlig ins Abseits gerät das tathergangsgeschädigte Gehirn als es den minderbegabten Mädchen, in deren Tagebüchern die kluge Anwältin (Regina Rick) sehnsüchtige Klage um den Vater entdeckte, das Raffinement zurechnet, diese Briefe „vorsorglich“ verfasst zu haben, damit, wenn die Polizei endlich auf ihre Spur gekommen sei, der Unschuldsbeweis geführt werden könne.

Die verblüffte Journalistin fragt nach, ob aus der Perspektive der Justiz nicht vielleicht doch etwas falsch gemacht worden sei und erhält die Antwort, daß man das „SO im Nachhinein nicht feststellen“ könne. Und als sie sich trotz dieses schnöden Hohns noch traut zu fragen, ob „irgendjemandem etwas leidtun“ müsse, erhält sie auf ihre abwegige, nach Menschlichkeit duftende Frage, eine trefflich passende und nicht mehr diskutierbare Antwort, dass nämlich „leidtun“ keine „juristische Kategorie“ sei. Wohl wahr.

Drei Produkte juristischer Ausbildung. Interdisziplinäre Nullen. Vermutlich alles andere als ungebildet. Gute Staatsbürger. Hinlänglich redefähig. Wähler demokratischer Parteien. Selbstgerecht und von triefender Borniertheit. Selbstbewusste Opfer der eisernen Disziplinarität. Was könnte wohl eine der „Rechtswissenschaft“ zugesetzte Infusion von „Grundlagen“ dagegen ausrichten? NICHTS! Grimm hat honett und vergeblich gepredigt.