Petrus Faber
Zu den vielen Verzerrungen, Beschädigungen und Entartungen, die dem deutschen Hochschulsystem in den letzten Jahrzehnten zugestoßen sind, ist als eine besondere und sonderbare Fäulnis das Auftauchen der „Plagiatsjäger“ zu rechnen. Dabei handelt es sich in der Mehrzahl um als „Wissenschaftler“ maskierte Personen, deren Wissenschaft darin besteht, daß sie die illegitime Aneignung von Gedanken und Sätzen durch Leute, die zu solchen Gedanken und Sätzen nicht in der Lage waren und sind, aufspüren und publizieren.


Das Aufspüren von Gedanken ist freilich relativ selten, da man dazu etwas von der Sache verstehen muss - eine Qualifikation, die den Jägern im Allgemeinen abgeht. Umso sicherer und erfolgreicher sind sie dafür bei der Identifikation von gestohlenen Sätzen, da der Vergleich einer Zeichenreihe aus Text a mit Zeichenreihen aus Text b offenkundig eine über die Erkennung von Buchstaben hinausgehende Fähigkeit nicht erfordert, weshalb er in der Regel auch durch Maschinen erledigt wird.

Als Motivation für ihre stumpfsinnige Tätigkeit geben die Plagiatsjäger gern ihre Sorge um die „Reinheit der Wissenschaft“, um die „akademische Ethik“, Sitte und den Anstand in der Universität und ähnliche hehre Prinzipien und Maßstäbe an. Au fond geht es meist um höchst kleinkarätige Beweggründe, wie persönliche Missgunst, Karriereneid, politische (gelegentlich auch vom politischen Gegner alimentierte) Kampagnen und ähnliche, zurzeit eher als minderwertig eingestufte Motive.

Entsprechend gering ist die gesellschaftliche Wertschätzung der „Jäger“, die sich deshalb auch nur selten, d.h. dann, wenn sie ohnehin keinerlei Gratifikation mehr zu erwarten haben, zu erkennen geben.

Das war nicht immer so, wie die Geschichte - wer denn auch sonst? - lehrt.

Wir blättern in CERES, einer von dem Wiener Buchhändler und Schriftsteller Franz Gräffer (1785 - 1852) herausgegebenen Zeitschrift mit dem schönen Untertitel: Originalien für Zerstreuung und Kunstgenuß.Franz Gräffer, Ceres - Originalien für Zerstreuung und Kunstgenuß


Im Vorwort zum ersten Band von 1823 annonciert der Herausgeber, woran er bei Ceres, der römischen Göttin des Ackerbaus, gedacht hat: Man denkt sich bey dieser Ceres ein Lesepublikum, das die Zerstreuung, oder wenn man will, die Erholung liebt, und dabey dem Kunstgenuß hold ist.

Im zweiten Band dieser Genußpublikation (1824) findet man (Seite 21 - 38) eine Abhandlung von Franz Maria Nell mit dem Titel „Das Plagiat“.

Die Deutsche Biographie erzählt, daß es sich bei diesem NELL um Franz Maria Nell, Freiherr v. Nellenburg-Damenacker handele, der 1795 in Brünn in Mähren geboren worden und 1852 in Frankfurt am Main „als Vorstand der Bundescassenverwaltung“

gestorben sei. Er habe sich „frühzeitig litterarischen Arbeiten und Studien zugewendet“ und dabei „namentlich die Naturwissenschaft, Geschichte und Alterthumskunde zum Gegenstande seiner geistigen Beschäftigung erwählt“, d.h., Nell verstand etwas von Wissenschaft und ihren Vertretern.

Als schönwissenschaftlicher Schriftsteller“ habe sich der Freiherr ebenfalls versucht berichtet Franz Brümmer in der BIOGRAPHIE, allerdings ohne Nachhaltigkeit: „Eine weittragende Bedeutung für die Litteratur haben diese Arbeiten freilich nicht.“

Das kann man gewiss auch von Nells Abhandlung über das Plagiat sagen, denn tatsächlich wird dieser Gegenstand nur in der (als solche zudem eher missglückten) Einleitung traktiert, während es in der Folge um eine Rezension eines mehr als 100 Jahre zuvor (1718) erschienen Buches des Hanauer Archivars und Heimathistorikers Johann Adam Bernhard (1688 - 1771) geht. Eine zwar nicht völlig unwitzige, aber hier uninteressante Besprechung.

Immerhin weiß der „wirkliche Hofrath“ Nell in seiner Einleitung noch so viel vom Plagiat-Denken zu berichten, daß sich die Lektüre unbedingt lohnt:

Das Plagiat.

Von Franz Maria Nell.

Der Famulus eines Gelehrten entschuldigte einst vor Gerichte eine an seinem Herren verübte Entwendung damit, daß er anführte, er glaube nur ein Plagiat begangen zu haben, denn sein Herr habe oft geäußert, Diebstähle unter Gelehrten, zu denen sich denn jener Famulus gleich dem Göthe'schen Wagner, der Vieles weiß, doch Alles wissen will, bescheidener Weise gern gesellte, nenne man Plagiate, und diese seyen in keinem Gesetzbuche verpönt. Ob das Gericht diese Entschuldigung gelten ließ, weiß ich nicht, allein es muss ein Spruch erfolgt seyn, der sie wenigstens zur Hälfte gelten ließ, denn wir sehen noch heute Mineralogen, Numismatiker, Bibliographen, Raritätensammler und Consorten die Steine, Münzen, Bücher und Raritäten ihrer Geistesverwandten mit so ruhigen Gemüthe in die Tasche schieben, als ob sie zum Behufe eines Plagiats excerpirten, ja, ein Gelehrter in London1 hat sogar aus den kostbarsten Werken einer öffentlichen Bibliothek Blätter herausgerissen, um sich die Mühe des Abschreibens zu ersparen. Ich schließe daraus, daß ein Plagiat in der gelehrten Welt, wo die höchste Freyheit und Gleichheit herrschet, besonders wenn es durch Gänsefüße, Zitiren, Redend - anführen u. dgl. Manoeures maskirt wird, zu den erlaubten Dingen gehöre; und auch ich will daher wohlgemuth das Beyspiel so vieler berühmten Schriftsteller (Jemand rieth, in solchem Falle Schriftstehler zu schreiben) nicht ohne Nachahmung lassen. Damit nicht ein zweyter Heinrich Valesius 2 , der jeden Gedanken eines Autors ein Plagiat nannte, den er selbst früher gedacht, wenn gleich nicht ausgesprochen hatte, oder ein zweyter Petrus Faber3 gleich strenge in dieser Hinsicht, gegen mich aufstehe, will ich meinem Vorsatze treu, die Verwirrung im Reiche der Todten (in dem Repositorio der Meinungen) nicht zu vermehren, und doch zugleich den lebendigen Nutzen der Wissenschaft alles Wissenswürdigen recht anschaulich zu machen, zum Gegenstande ein Plagiat wählen, und zwar das verzeihlichste; ich liefere nämlich das Inhalts-Verzeichniß eines dickleibigen Buches, das der Hanauer Johann Adam Bernhard unter dem Titel: Kurzgefaßte kurieuse Historie derer Gelehrten im Jahre 1718 zu Frankfurt am Main erscheinen ließ. Man kann aus diesem Inhalts-Verzeichniße Manches lernen, hauptsächlich aber, von welcher Wichtigkeit es sey, gelehrt zu seyn, oder es auch nur zu scheinen, und wie völlig einerley hier Seyn und Schein sich zeige – doch ich will nichts verrathen, und gehe sogleich mit Auslassung minderwichtiger Capitel an die Anzeige der in Bernhards Buche enthaltenen inhaltschweren historischen Denkwürdigkeiten von Gelehrten.

(…)

Plagiat, war also seinerzeit, nicht anders als heute, kein Straftatbestand, und der bedienstete Schlaumeier, der seinen Diebstahl, der freilich kein geistiger gewesen sein dürfte, als „Plagiat“ kaschieren wollte, war jedenfalls dahingehend instruiert, daß Plagiate gang und gäbe waren.

So auch Nell, der freilich interessanterweise selbst das hinreichend ausgewiesene Zitat, etwa mittels der (inzwischen geradezu zum zentralen Redlichkeitskriterium erhobenen) „Gänsefüßchen“, nicht von der illegitimen Aneignung ausnimmt und zum maskierten Plagiat rechnet. Da sind wir inzwischen doch sehr viel toleranter geworden, auch wenn wir Dichter wie Bertolt Brecht heutzutage ohne Zögern zu den „Schriftstehlern“ rechnen würden.

Mit HeJoh. Friedrich Jugler, Beyträge zur juristischen Biographieinrich Valesius (Henri du Valois, 1603 - 1676) gelangen wir vom frühen 19. ins 17. Jahrhundert, in dem der humanistische Historiker und Übersetzer werkelte. Dass Valesius, wie Freiherr von Nellenburg behauptet, bereits ein von ihm Gedachtes, aber erst von anderen Ausgesprochenes, als „Plagiat“ bezeichnet habe, dürfte allerdings selbst dann als reichlich übertrieben anzusehen sein, wenn man des Valesius‘ cholerisches Temperament in Rechnung stellt, welches ihn (so Zedlers Universal-Lexikon) zur barschen Zurückweisung jeder Kritik an seinen Werken oder zur Verwünschung jener Zeitgenossen veranlasst haben soll, die etwa davon ausgingen, daß man ihm zum 70ten Geburtstag ein geruhsames „Alter“ wünschen dürfe. Immerhin berichtet sein jüngerer Bruder und Biograph Adrian (Valesius, oben Anm. 2), daß er schon bei leichter Kritik an seinen Schriften ausrastete und entweder die völlige Tilgung der Äußerung oder eine dankbare Erwähnung verlangt habe.


Bei Petrus Faber (1540 - 1600) sind wir schließlich im 16. Jahrhundert. Faber, dem erst Joh. Friedrich Jugler (Beyträge zur juristischen Biographie, 5. Bd., 49 - 56, 1779, ) eine angemessene Würdigung zuteilwerden ließ, war dagegen von anderem Format. Vielleicht hat sich der eifrige Sc
hüler des weltberühmten Cujaz und Toulouser Parlamentspräsident die Entdeckung eines Gedankengangs, den er selbst gehabJoseph Scaliger
t hatte oder glaubte, gehabt zu haben, tatsächlich nur so zu erklären vermocht, daß er sich ein Plagiat vorstellte und nicht beispielsweise die Schlichtheit seines fraglichen Gedankens ins Auge fasste.

Wenn Jugler (S. 51) berichtet, der (ebenfalls nicht gerade unbekannte) Joseph Scaliger (1540 - 1609), habe die Schriften des Petrus Faber „für lauter Compilation“ angesehen, dann hat man anscheinend davon auszugehen, dass die akademischen Spitzenköpfe des 16. Jahrhunderts entweder tatsächlich ständig voneinander und von anderen abschrieben oder daß sie mit geradezu neurotischem Argwohn auf der Originalität ihrer Gedanken beharrten.

Man sieht: Der „Plagiatsjäger“ ist weit weniger eine Neuheit als es den Verfolgten scheinen mag, denn Valesius und Faber können ohne Einschränkung als Ikonen und frühneuzeitliche Vorläufer der Verdächtigungsprofis angesehen werden, von denen sie sich nur dadurch unterscheiden, daß sie außerdem exzellente und als solche anerkannte und angesehene Wissenschaftler waren. Aber es ist eben auch in diesem Bereich vieles nicht mehr so wie es einmal war.


1 Da diese Geschichte im vorigen Jahre in öffentlichen Blättern zu lesen war, enthalte ich mich jeder näheren Bezeichnung. Übrigens brauchen aber manche Autoren eben nicht die Blätter fremder Bücher unter ihrer Firma in eines zusammen zu binden, damit in der Anzeige desselben die Abkürzung I Vol. mit Recht un Vol. gelesen werden könne.{d.h., nicht „1. Band“, sondern französisch „ein Diebstahl“ DS}



2 Hadrianus Valesius sagt von ihm: „qui etiam si vel leve aliquid ad literas pertinens cumquam dixisset, in voluminibus editis aut rem totam supprimi aut gratam sui memoriam fieri volebat, et se inhonoratum transmitti indignabatur.“



3 Der Parlaments=Präsident Petrus Faber zu Toulouse schimpfte jeden Autor einen Plagiarius, wenn er in dessen Werken Gedanken traf, die den Seinigen gleich kamen. Bekannt ist sein Streit mit Selden, dem Verfasser des Buches de Diis Syriis.