Studentenrevolte
Eine Einladung zog mich nach Frankfurt am Main. An die Goethe Universität, zu meinem ehemaligen „Fachbereich“, der juristischen Fakultät. Lange bin ich nicht mehr bei einer Veranstaltung der Fakultät gewesen. 1991 schon, glaube ich, bin ich ausgeschieden und in die Max Planck-Gesellschaft übergewechselt. Aber auch meine alten Kollegen amtieren längst nicht mehr. Sind im Ruhestand oder tot. Man sieht sich bei Beerdigungen.
Den Veranstaltungstyp, dem ich (am 25. April 2014, um 18.00 Uhr) beiwohnte, gab es früher nicht. Er heißt „Promotionsfeier“. Der aufklärende Untertitel sagt: „Verabschiedung der Promovierten des Jahrgangs 2013/2014 und Ehrung der Goldenen und Silbernen Doktorandinnen und Doktoranden“. Eine der vielen Imitationen angelsächsischer Übungen also, die ihrerseits einmal Nachahmung europäischer Sitten waren. Hierzulande mehr aus der Not geboren als aus Traditionsbewußtsein und Festesfreude. Dementsprechend geht es auch nicht vornehmlich um die alten und neuen Titelträger. Es geht um die „alumni“. In Amerika heißen die „älamnei“, was man zu meinem nicht geringen Erstaunen in Frankfurt jedoch (noch) nicht zu hören bekam. In Zeiten leerer Kassen sind diese „Zöglinge“ die Hoffnung der Fachbereiche, deren Spendendurst zu Recht unstillbar ist, weshalb sie den Zöglingen eingeben möchten, daß sie in Wahrheit „Pfleglinge“ waren und dafür Dank schulden.
Spenden können zwar naturgemäß nur jene älteren Damen und Herren, die „es zu etwas gebracht“ haben. Da aber nur spendet, wer sich mit einer Sache oder einer Institution verbunden fühlt, muss die Verbundenheit alsbald, am besten: sofort beim Verlassen der Anstalt, hergestellt und dann lange aufrechterhalten werden. Deshalb also die „Verabschiedung“, deshalb die silberne (25 Jahre) und goldene (50 Jahre) Erneuerung der vordem verliehenen Urkunde.

Ich war wegen zweier Silberner gekommen – einen Goldenen werde ich aller Voraussicht nach nicht erleben – zwei Anwälte, Thomas Drosdeck und Klaus Minuth, inzwischen Megaplayer in ihrem Beruf, früher in meinem Seminar gedrillt, dann von mir promoviert, karrierebedingt aus den Augen geraten, altersbedingt wieder zusammengefunden.
„Saal 2/West“ stand auf der Einladung. „Gibt es nicht“, sagte der Pförtner am Eingang zum zweifellos schönsten Campus Deutschlands, hatte aber in sein Journal mit großen Buchstaben „Promotionsfeier“ inskribiert bekommen und wusste deshalb leidlich den Weg zu beschreiben.
Wir (meine Lehrstuhlnachfolgerin, Regina Ogorek, der Fakultät zwar ziemlich, aber nicht vollständig entwöhnt, hatte es sich nicht nehmen lassen, mich bei diesem freudigen Gang zu begleiten) betraten pünktlich einen schon etwas stickigen Saal – die Klimaanlage wird aus Kostengründen (hi, alumni!) erst im Sommer eingeschaltet.
Der Dekan des Fachbereichs, Prof. Dr. Georg Hermes, begann mit seiner Ansprache. Sie plätscherte langsam, routiniert und frei von jeglicher Emotion in den Saal. Ein Pfarrer, der längst den Glauben eingebüßt hat, aber aus lieber Gewohnheit nicht auf seine Predigt verzichten mag. Eine gediegene Farb- und Freudlosigkeit als Vorbereitung auf den vorrangig (natürlich) zu verleihenden Baker & McKenzie-Preis. „Baker & McKenzie is a global law firm founded in Chicago by Russell Baker and John McKenzie in 1949. It employs over 4,100 lawyers in 75 offices“ – keine alumni also, aber, was ideell zusammenfallen soll, Sponsoren.
Eigentlich waren es zwei Preise. Einer für einen Juniorprofessor und nun auch Privatdozenten, der sich mit einer Studie über den Zusammenprall von Sachenrecht mit digitaler Welt in der „Sache“ Wertpapier habilitiert hat, und einer für eine Doktorin, die in Ihrer völkerrechtlichen Dissertation der Förderung von Rechtsstaatlichkeit in der Entwicklungszusammenarbeit nachgegangen ist - einleuchtende, interessante Themen, auf die der Preisverleiher (Dr. Christian Reichel) aber (vermutlich mangels Kompetenz) nicht einging. Seine Sache war es, die Güte und Größe der Sozietät Baker & McKenzie zu vermitteln, ohne darauf allzu aufdringlich herumzureiten, was denn auch leidlich gelang.

Vorgestellt wurden die Preisträger von ihren - so darf man vermuten - Betreuern. Für den Habilitierten (Ulrich Segna) war dies der Prof. Dr. Drs. h.c. Theodor Baums, der geschickt und gelassen das Kunststück vorführte, wie man mit wenigen Sätzen Problem und Bemühung eines Geehrten so plastisch werden lässt, daß auch der „Laie“ glauben darf, er habe etwas verstanden. Die Doktorin (Jacqueline Neumann) hatte weniger Glück. Von ihrem Laudator (Prof. Dr. Stefan Kadelbach) blieben nicht so sehr die Geschicke der rule of law als die übereinander gekreuzten Beine in Erinnerung, eine Haltung, welche gemeinhin den dringenden Ruf nach einer Toilette zu signalisieren pflegt.
Zum Abschluss dieses Abschnittes der „Promotionsfeier“ durften die Preisträger selbst auf die Bühne, um in gebotener Launigkeit ihren Dank abzustatten, was der Habilitierte und schon etwas routinierte Segna lässig („...man wurde nicht zu Cocktailparties eingeladen“) erledigte, während sich die Anfängerin Neumann eher piepsig gab, auch auf den Standardhinweis, daß ihre 887 Seiten ohne die Entsagungen von Pappi, Mammi, Tochter und Ehemann nicht zu schaffen gewesen wären, nicht verzichten wollte ("Danke Mammi...!").
Um auf den Hauptteil der Veranstaltung vorzubereiten, begaben sich jetzt drei ältere Herren (The Philly Long Trio) zu Cello, Kleinklavier und Schlagzeug und spielten etwas, was sich zwar deutlich abhob von der andernorts häufig gebotenen „Kleinen Nachtmusik“, aber doch so klang wie die Erinnerung alter Männer an ferne forsche Jazz-Zeiten („Take 5“).
Es folgte das Hauptstück: die „Ehrung der Promovierten und Überreichung der Gratulationsurkunden“ - eine Annonce, bei der sich die „Ehrung“ etwas seltsam ausnimmt, denn das Bestehen einer Prüfung (Dissertation = Nachweis der Befähigung zum wissenschaftlichen Arbeiten) ist zwar gewiss Anlass zum Gratulieren, aber kaum zur Ehrung. Schließlich werden die Promovierten nicht anschließend auf dem Altar der Wissenschaft geopfert, sondern dürfen die ersehnten zwei Buchstaben auf Visitenkarten drucken und in den Pass eintragen lassen.
Ein solcher Gratulationsakt ist zweifellos für die Gratulierenden eine ganz besondere organisatorische Herausforderung. Wie würdigt und beglückwünscht man einen festlich gekleideten Haufen von (wenn ich richtig gezählt habe) 26 (von 27) anwesenden und zu beklatschenden Promovierten, ohne daß das Publikum in Verzweiflung und Starrkrampf verfällt? Die Organisatoren entschieden sich für die so genannte Stummfilm-Methode:

13 Frauen und 13 Männer, alphabetisch aufgereiht in einer Schlange, die vom (für den Zuschauer) linken Rand der Bühne, wo der Urkundsverleiher stand, bis zum (rechten) Fuß der Bühne und in den Saal hineinreichte, rückten die Kandidaten auf einen Wink oder einen (unhörbaren) Ruf langsam Stück für Stück vor, wobei gleichzeitig auf eine über ihren Köpfen befindliche Leinwand ihr Name und das Thema ihrer Dissertation projiziert wurde. Man konnte deutlich sehen, daß bei Überreichung einer Urkunde einige (freundliche? lobende?) Worte gesprochen wurden, sah Lächeln und (knappen) Händedruck, und schwupp machte die oder der Promovierte (Abgang nach links!) dem nächsten Urkundenanwärter Platz.
Zu vernehmen war nichts. Das Publikum nahm den optischen Reiz des Abgangs nach links zum Anlass für mechanisches Händepatschen und hatte nach einer lautlosen halben Stunde alles soweit unbeschadet überstanden, daß es, ohne über die Arbeiten, über die im Zeitalter der Plagiate doch besonders wichtigen Betreuer, über die Originalität des Ansatzes usw. irgendetwas erfahren zu haben, bereit war, einer „Promovenden[sic!]rede“ von Dr. Charlotte Schultz zu lauschen.
Dr. Schultz redete nicht über das „Was“ ihrer Bemühungen (Besitzfunktion im französischen Recht), sondern über das „Wie“, also über die schöpferischen Qualen der Promovendae und Promovendi, über Schreibenwollen, aber nicht Schreibenkönnen, die Tücken, die Natur und Umwelt dem Jungwissenschaftler auf seinem Weg zum "Dr." bereiten. Das kam gut an, wie immer, wenn unter alten Hasen vom ersten Ausflug in den Kohlgarten berichtet wird. Die political correctness („Sehr geehrte Damen, liebe Promovenden“) bewies, daß das alte Lied wenigstens ein neues Proömium gefunden hatte.

Das Philly Long Trio schlug wieder zu, und die Ehrung der „Silbernen“ und „Goldenen“ begann - erneut nach der schon bewährten Stummfilmmethode. Immerhin waren die beiden Portionen (erst die silberne, dann die goldene) jetzt wesentlich kleiner, die Geehrten wesentlich älter, die meisten sichtlich (zu hören gab es nichts) bedeutend. Worüber sie einst promoviert hatten, las man über ihren Köpfen. Wer sie promoviert hatte und ob der Lohn den Mühen (siehe Dr. Schultz) entsprochen, blieb (vermutlich) ungesagt.
Wohl eher bestellt als gewählt, sprach der "silberne" Professor Dr. Jürgen Taschke schöne Dankesworte für die (oder im Namen der?) Geehrten. Präsentation des Redners durch den Dekan: „Taschke berät – von 1994 bis 2009 als Partner bei Clifford Chance – Unternehmen und Banken in allen Fragen des Unternehmensstrafrechts. […] Herr Dr. Jürgen Taschke leitet in diesen Fällen interne Untersuchungen und nimmt Bewertungen der Sachverhalte vor. Seit Juli 2009 ist Dr. Taschke Honorarprofessor an der Universität Frankfurt/Main“. Abschließend pries Dr. Volker Konopatzki, der Vereinsvorsitzende der Frankfurter alumni, die Leidenschaften und die Tugenden seines Vereins und forderte zum Eintritt auf.
The Philly Long Trio legte sich ein letztes Mal ins Zeug, und ich hatte unvermutet und zum ersten Mal Sehnsucht nach 1968.kommune





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