CaraSie hatte vier weiße Füße. Weiße Socken, verschieden weit hochgezogen. Sonst war sie pechschwarz bis auf einen weißen Latz auf der Brust. Riesige Ohren, viel zu groß für eine kleine Hündin.

Aber sie brauchte diese Ohren, denn sie war äußerst ängstlich. Der ängstlichste Hund, den ich je gesehen habe. Befreit aus schauerlichen Kindertagen, traute Cara niemandem und nichts. Gewitter nahm sie als schreckliche Drohung und verbarg sich im Bad. Schüsse oder Knallkörper brachten sie unter das Bett oder in eine finstere Ecke. Nur langsam gewöhnte sie sich an andere Hunde.  Noch langsamer an Menschen. Spazierten wir im Wald und sie erblickte in weiter Ferne einen Zweibeiner, wich sie vom Weg ab und begleitete mich umsichtig in 4 bis 5 Meter Entfernung vom gebahnten Weg. So, daß sie mich nicht aus den Augen verlor. Sie verlor mich niemals aus den Augen. Ich dagegen glaubte sie immer wieder einmal verloren. Dann rief ich oder pfiff, bis mir klar wurde, daß sie längst hinter mir stand. Das nahm sie aber nicht übel.Cara
Sie nahm überhaupt nichts übel. Hat niemanden gebissen und niemanden bedroht. War ein heiterer Hund. Schlief gern und war ein bißchen verfressen. Natürlich verstand sie, wie jeder gute Hund, Mimik, Gestik und einige Worte. Schaute über die Schulter, wenn ihre Nase meinen Duft verlor.  Ging nach links, wenn ich dorthin deutete und schwamm nach rechts, wenn ich „rechts“ rief. Blieb geduldig am Straßenrand stehen, auch wenn kein Auto kam, und entschied höchst selten, daß meiner Behäbigkeit durch einen vorsichtigen Schritt auf die Fahrbahn Beine gemacht werden müssten. Sie sah, wann sie mitgehen durfte und wann nicht. Sie wusste, wann ihr fester Blick aus schwarzen Hundeaugen mich zu etwas Schönem (Stock, Leckerli, Fangen) bewegen konnte und wann nicht. Ein Mischling eben und damit ein Unikum. Kein Rassehund, die alle gleich aussehen und dieselben Eigenschaften haben. Cara ähnelte allenfalls Ihrem Bruder "Magnus", aber sonst niemand und ihre Eigenschaften waren unbekannt. Man musste sie erkunden. Ein Quell stetiger Freude.
Cara gehörte mir nicht. Sie gehörte R.O., und war nur mein gern gesehener Gast. Ein Gast, der den Gastgeber liebte, ihm täglich mehrmals den Weg in die Küche zeigte, ein Gast, der seinem Gastgeber offenkundig vertraute und ihm bei schwieriger  Orientierung souverän aus der Klemme half.  Cara verdrängte ihre Angst, wenn sie sah, daß kein Weg am Seminar vorbeiführte. Sie lag in einer Ecke oder unter meinem Tisch, bis ihr Aufbruchgeräusche signalisierten, daß der Heimweg winkte. Im Laufe der Jahre ist sie auch mein Hund geworden - nicht eben selbstverständlich, denn ganz gehörte sie nur der Herrin R.O., wo die Sicherheit am größten und die Liebe ungeteilt war.
Heute, am 11. Juli 2013, um 13.00 Uhr wurde Cara getötet. In einem Monat wäre sie 12 Jahre alt geworden. Der Tierarzt war erfahren, vorsichtig, sanft und hatte nichts vom haudegenhaften Veterinär. Als er die Röntgenaufnahme sah, erschrak er. Was ausgesehen hatte wie ein „Hexenschuss“, vielleicht wie ein Bandscheibenschaden, war das Resultat eines brutalen und feindseligen Krebses, der erst vor wenigen Wochen operiert worden war. Metastasen in der Lunge, Metastasen im Rückgrat, die Füße schon gelähmt, die Blase aufgeschwollen, die Nieren geschädigt. Alles innerhalb von 5 Tagen. Der 6. Tag war ihr Todestag. Der Todestag einer Juristenhündin.
R.O. war da und wir wussten, daß wir uns nichts vormachen sollten. Ralf Schickert, der Tierarzt, brauchte uns nicht zu überreden und nicht zu führen. Seine Methode besteht in sanfter Narkose und anschließender Überdosis eines Anästhesiemittels. Cara ließ sich widerstandslos, wie immer, auf den Tisch heben. Sie hatte nie Widerstand geleistet. Ich durfte ihr ins Maul greifen, Caraeinen Stock oder eine Knochen herausreißen. Ich durfte sie am Schwanz ziehen, wenn sie sich an verbotener Stelle verkroch oder sie umwerfen. Jetzt lag sie vor uns, den schönen Kopf zwischen die weißbeschuhten Vorderpfoten gelegt, die großen Ohren aufmerksam hochgestellt. Nur der aufgeblähte Bauch und die kleinen zuckenden Schauer, die sie durchliefen, verrieten ihr Leid. Ihre Augen verrieten das feste Vertrauen, daß sie bald geheilt sein werde.
Sie zuckte ein wenig als die Spitze der Anästhesiespritze eindrang. Aufgrund der Vorbehandlungen und der tagelangen Nahrungsverweigerung  werde ihr wohl alsbald ein wenig übel prophezeite der Arzt und zog sich für, wie er sagte 15 Minuten, zurück. Wir kraulten den Kopf, berührten vorsichtig, die wie eh und je glänzend schwarze und kühle Hundenase und weigerten uns zu glauben, was wir sahen, daß Cara einschlief und daß dies ihr letzter Schlaf sein würde.
Nach fünf Minuten wurde ihr schlecht, eine bräunliche Lache brach aus ihr heraus, mühelos und ohne Würgen, sie hatte ihr letztes Essen vom Montag schon längst verdaut. R.O. wischte den Tisch ab. Eine Assistentin kam und befasste sich mit dem Boden. Cara leckte mit ihrer prächtigen großen Zunge ihre Schnauze ab, eine wohlgeformte Hundeschnauze, weder spitz noch stumpf, einst schwarz, jetzt schon vielfach mit festen, weißen Härchen durchsetzt, und senkte ihren Kopf wieder zwischen die Pfoten. Wir sahen ihr in die Augen, sahen das Leben in ihrem Kopf und erkannten, daß sie uns nicht mehr sah.
Cara „Sie schläft tief“, bemerkte der kundige Arzt, „auch wenn sie, wie die meisten Hunde, die Augen geöffnet behält“.Sie würde, so wurden wir belehrt, nach der anstehenden finalen Spritze ein paarmal tief einatmen, wenn das wachsame Gehirn den nahenden Tod durch mehr Sauerstoff abzuwenden versuche. So war es. Aber das Zucken hatte längst aufgehört. Entspannt, den dicken Schwanz zur Seite neben dem Körper, in Bauchlage, das makellose, tiefschwarze Fell warm und straff, schaute sie uns unverwandt an, den Kopf zwischen den weißen Pfoten, die ein bißchen aussahen als hätte der Hund verschobene weiße Söckchen an.

Herzstillstand sei eingetreten, sagte der Arzt mit leiser Stimme. Die Assistentin versuchte uns routiniert über die Möglichkeiten zu informieren, mit dem Körper umzugehen. Mitnehmen oder in der Praxis lassen, Einzelkremierung oder Sammelverbrennung, Urnen, groß, klein, aus Metall für den Schreibtisch oder Holz für die Erde usw.
Wir hörten nichts. Wir beugten uns nieder und sahen hilfesuchend in die weit geöffneten, dunklen Augen. Wir blickten in schwarzes Glas. Cara war tot.