Ich beschäftige mich zurzeit ein wenig mit dem Privatrechtsdenken und den Privatrechtsdenkern in Vergangenheit und Gegenwart. Da fällt mir ein Buch auf: Werner Flume, Rechtsakt und Rechtsverhältnis. Römische Jurisprudenz und modernrechtliches Denken. Das ist offenkundig unmittelbar einschlägig, auch wenn von "Privatrecht" nicht die Rede ist.
Aber die Romanisten - und Flume (1908 - 2009) war ein "Romanist", wie zur Verwunderung der Nichtjuristen die auf das römische Recht spezialisierten Rechtshistoriker heißen - meinen bekanntlich, wenn sie „Recht“ sagen, immer „Privatrecht“, wie es ihnen ihr Großmeister Friedrich Carl von Savigny vorgemacht hat.
Ich sehe nach (bei ZVAB und Eurobuch), ob ich den Text erwerben kann. Denn immer noch fühle ich mich bei der Lektüre eines Buches so richtig wohl erst dann, wenn es mir gehört. Ich kann es dann misshandeln, ohne andere zu schädigen, ich kann es in den Schrank stellen und bei Gelegenheit suchen, kann an die Ränder kritzeln, auf den Blättern hinten und vorn allerlei notieren usw.
Ich stelle fest, daß die 176 Seiten zwischen 52,00 und 58,00 Euro kosten - kein antiquarisches Angebot. Das ist ziemlich viel Geld, obwohl der Umstand, daß sich anscheinend niemand des Buches entledigen will, ein Hinweis auf seine Qualität sein könnte. Ich ziehe meine Assistentin Vera zu Rate. Sie bietet an, das Buch auszuleihen und an kostengünstiger Stelle zu fotokopieren. Das kostet auch - nicht nur die Kopien, sondern auch - wesentlich teurer - ihre Zeit. Also vereinbaren wir zunächst Lektüre und, sollte die gewonnene Belehrung nach Perpetuierung verlangen, anschließende Fotokopie.
Am nächsten Tag halte ich das 1990 gedruckte Buch in Händen. „Mein Buch“, so schreibt der Autor ̶ immerhin ein Professor, der nach Wikipedia „die Entwicklung des deutschen Rechts maßgeblich“ beeinflusste, weshalb er „als einer der bedeutendsten Juristen des 20. Jahrhunderts“ gelte ̶ „mein Buch gilt dem römischen Recht“ (21). Es gehe „um das Verständnis des römischen Rechts aus dem auf den Rechtsakt bezogenen Denken der römischen Juristen“. Mir war bisher nicht klar, daß das Denken der römischen Juristen auf einen Punkt (eben den Rechtsakt, hier und da von Flume auch „Rechtsfigur“ genannt) bezogen war, von dem aus es erklärt werden kann. Erinnert mich irgendwie an Faust („es ist ihr ewig Weh und Ach, so tausendfach, aus einem Punkte zu kurieren…“) - aber um Neues zu lernen halte ich das Buch schließlich in Händen.
"Die römische Jurisprudenz", so Flume, "wird dabei verstanden als die Jurisprudenz der Klassiker, die auch die Justinianische Kodifikation beherrscht“ (21). Das ist ein richtig rätselhafter Satz. Was hat man sich unter „Beherrschung“ der justinianischen Kodifikation vorzustellen? Daß ein Teil - die pädagogische Portion (Digesten und Institutionen) - dieser Kodifikation (anders als die Teile Codex und Novellen) aus den Texten der Klassiker ausgeschnitten und unter Tilgung des Veralteten und sonst wie Unbrauchbaren neu zusammengesetzt wurde? Ein Regime (damals 300 - 400 Jahre) alter Texte würde man wohl nur dann als „Beherrschung“ etikettieren, wenn davon auszugehen wäre, daß Denken und Methode der Klassiker auch das Denken und die Methode der Kompilatoren der Kodifikation bestimmt haben.
Das wäre wirklich eine sensationelle These. Denn sieht man davon ab, daß Methoden und Denkweise der byzantinischen Antezessoren, das sind die Professoren, die die Kodifikation hergestellt und gelehrt haben, bislang nur sehr mangelhaft (und Flume, der sich niemals mit ihnen beschäftigt hat, überhaupt nicht) bekannt sind, ist die Romanistik bisher einhellig davon ausgegangen, daß, wie auch immer die Antezessoren gedacht haben mögen, die Distanz in Haltung und Geist zwischen Rom und Konstantinopel nicht groß genug gedacht werden könnte, so daß die Herrschaft eine sehr spirituelle gewesen sein müßte.
Flume scheint da anderer Ansicht zu sein und lässt mich ein wenig an seinem historischen Spürsinn und Feingefühl zweifeln.
Aber - sei’s drum - schließlich interessiert mich in erster Linie der „Unterschied modernrechtlichen Denkens und römischer Jurisprudenz“, den aufzuzeigen Flume versprochen hat (21).
Was das römische Denken anlangt, zitiert Flume den Altmeister Savigny, der (nach Flume) von den römischen Juristen gesagt hat: „Die Begriffe und Sätze ihrer Wissenschaft erscheinen ihnen nicht wie durch Willkür hervorgebracht, es sind wirkliche Wesen, deren Dasein und deren Genealogie ihnen durch lang vertrauten Umgang bekannt geworden ist“.
Wenn das zutrifft - und Flume teilt in diesem Punkt ganz offensichtlich die Meinung Savignys - dann haben wir in den römischen Juristen also Anhänger eines extrem essentialistisch und ontologisch ausgelegten Sprachkonzepts vor uns, das zwar da und dort bei jenen, die von Occams flatus vocis nicht berührt worden sind, auch heute noch Gefallen finden mag, aber im Allgemeinen nicht nur dem modernrechtlichen, sondern dem modernen Denken überhaupt vollständig abhanden gekommen ist.
Da, um es etwas antiquiert auszudrücken, Denken ohne Sprache schwer vorstellbar ist, scheint sich für Flumes erklärte Absicht, den „Unterschied modernrechtlichen Denkens und römischer Jurisprudenz“ zu beschreiben, jetzt ein weites Feld zu eröffnen. Leider ist davon allerdings im Folgenden nicht eigentlich mehr die Rede - ja man gewinnt den Eindruck, daß Flume den Platonismus der römischen Juristen für eine so vorzügliche Sache hält, daß er nur bedauert, denselben nicht wieder einführen zu können - womit dann freilich Scholastik und Pandektistik fröhliche Urstände in der Jurisprudenz hätten feiern können.
Für das modernrechtliche Denken wird lediglich noch mitgeteilt, was es NICHT war oder ist: ihm eignet nicht, wie dem römischen Denken, die „Bezogenheit der rechtlichen Argumentation auf die Rechtsakte als Rechtsfiguren“ (22), sondern es knüpft (offenbar ohne Skrupel) an das organisch gedachte, materiellrechtliche Schuldverhältnis an (passim).
Von den (negativen?, positiven?) Folgen dieser Entscheidung wird nicht weiter gesprochen. Flume bemüht sich, quer durch das römische Recht (Stipulatio, Unmöglichkeit der Leistung, Stellvertretung, Kauf, Ersitzung etc.), die zitierte „Bezogenheit“ darzutun, was ihm, wie man den Eindruck hat, schon aufgrund der erheblichen Abstraktheit der Frage, die den Texten sehr viele Antworten ermöglicht, mühelos gelingt.
Dagegen glückt es dem Leser vermutlich nicht ohne weiteres, ebenso mühelos einen darstellbaren Gewinn aus diesem Tun zu ziehen. Er weiß nach 176 Seiten, wie Flume die römische Jurisprudenz verstanden haben möchte, eine Deutung, die er glauben mag, oder auch nicht. Jedenfalls muß er recht ordentlich Latein lernen oder gelernt haben, denn Flume schickt ihn, wie es die Alten taten, erbarmungslos durch die Pandekten ohne sich lang mit Erläuterungen oder gar Übersetzungen aufzuhalten.
Da fragt man sich denn doch, für wen dieses Buch 1990 geschrieben worden ist. Sicher nicht für Studierende, die schon damals so wenig damit anfangen konnten wie sie es heute könnten. Für die Kollegen Juristen? Die hat das seinerzeit zweifellos so wenig interessiert wie es sie heute interessieren wird. Für die Kollegen Romanisten? Vielleicht für Kaser (1906 -1997), der noch lebte, und mehr als fast alle seiner Zeitgenossen für alte Dogmatik übrig hatte.
Ich vermute allerdings, daß Flume das Buch für Friedrich Carl von Savigny schrieb, dessen postmortale "Herrschaft" er unterstellte - daß es deshalb wenig gekauft wurde und folgerichtig nicht antiquarisch zu erwerben ist.
Wir haben es nicht fotokopiert.
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Modernrechtliches Denken
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