Die epidemische Ausbreitung des Plagiarismus hat die Blicke der Beobachter des Wissenschaftssystems auf eine bislang nur selten in Sicht und ins Gerede gekommene Spezies gelenkt: den professoralen Betreuer von Doktorarbeiten. An seiner Phänomenologie wird noch gearbeitet.

Einstweilen steht nur fest, daß er in ebenso vielen Varianten blüht, wie es Universitäten, Fakultäten und Promoventen gibt, will sagen: keiner gleicht dem anderen. Es gibt Großbetreuer, die ganze Herden von Promovenden auf die akademische Weide treiben und sie aus ihrer Eigenproduktion so geschickt mit Zulieferer-, Neben-, Ergänzungs- und Abfallthemen versorgen, daß das Promotionsgeschäft in den Formen frühindustrieller Produktion erscheint. Was dann wiederum dem Betrieb zu weiterem Wachstum verhilft. Es gibt Kleinbetreuer, die sich nur mit exzellenten wissenschaftlich entschieden ambitionierten, durchgängig selbstbestimmten Individuen einlassen, die sie dann über Jahre und manchmal Jahrzehnte hinweg in mindestens kollegialer, meistens aber in adoptionsadäquater Manier bewachen und herzen und in rückstandsloser Identifikation über alle akademischen Hürden zu heben versuchen. Zwischen diesen Extremen west der Mittelstand, der es auf 1 bis 2 Promovenden pro Jahr bringt, den Doktoranden bei ihrer selbstgewählten Arbeit regelmäßig zuhört, ihnen den einen oder anderen Tipp gibt, mahnt, wenn es zu langsam geht, insistiert, wenn die Oberfläche nicht durchstoßen wird, und - nach gehabter „Verteidigung“ - den Doktor oder die Dottoressa auf Dauer in ihre weitere Karriere und einen gelegentlichen Kaffee entlässt.

Ich gehöre nach meiner Selbstbewertung zum Mittelstand und fühle mich einstweilen dort noch wohl, habe allerdings allen Grund zu der Annahme, daß es damit alsbald vorbei sein wird. Denn die Damen und Herren von der akademischen Betroffenheit sind bereits dabei eigehende Vorschriften und Ethikkataloge für Betreuer auszuarbeiten, in denen nicht nur die Zahl der Betreuungsstunden, sondern auch die Inhalte der Betreuung („Dissertation und Wahrheit“; „Was ist ein Zitat?“ u.ä.), die Rechenschaftsberichte der Betreuer und die Zahl der Evaluationen, denen sich der Betreuer eidesstattlich zu unterwerfen hat, festgelegt werden sollen.

Es könnte also sein, daß Vera Finger mein letzter „Betreuungsfall“ wird, weswegen ich sie jetzt zu einer Beschleunigung ihrer Arbeit aufgefordert habe.

Allerdings mußte ich während eines Aufenthalts in Paris im Musée Quai d’Orsay feststellen, daß meine Lieblingsdrohung mit einem Hartz IV-Schicksal für den unfertigen Doktoranden doch nicht so wirksam sein dürfte, wie ich annahm - jedenfalls wenn man Thomas Couture (1815-1879) folgt, der die Guido Westerwelle-Vision vom Gegenwartsschicksal der „Hartzer“ schon 1847 auf die Leinwand bannte (Les Romains de la Décadence).

Dekadenz in Rom
Bei Vera hat die Drohung freilich noch gewirkt, denn sie präsentierte umgehend einen Bericht zum Stand der Dinge, der zu den schönsten Hoffnungen berechtigt.

Hier ist er.