Das Leben ist ungerecht. Man weiß es. Aber man ist doch immer wieder verblüfft, wie ungerecht es ist.

Ronald Dworkin, liest man, ist gestorben. 81 Jahre war er alt, der Gutmensch der Rechtstheorie. Gerade hat er uns noch 700 Seiten „Gerechtigkeit für Igel“ (Justice for Hedgehogs, 2011) zugeworfen und schon ist er tot. Einheit der Werte. Absolute Wertewelt. Die objektive Wahrheit des Werturteils. Scharfer Antirelativismus. Moral und Wahrheit und ihr innerer Zusammenhang.Ethik und Ethos. „Gelungene Lebensführung“ eines amerikanischen Professors. Sehr liberal, gewiss. Auch brav politisch engagiert. Aber nicht wirklich ein neuer Gedanke. Die traditionellen frommen Wünsche aus der moralphilosophischen Kiste der Kathederphilosophie.Salbader zum Brett des Karneades.


Krzysztof Michalski dagegen wurde nur 64. Konnte keine 700 Seiten mehr schreiben. Hat nicht gewusst was Wahrheit ist. Hat auch immer gesehen, wie das ist mit den absoluten Werten und dem einen einzigen richtigen Urteil. Im besten Fall Metaphysik. Meistens aber empirischer Quark. Hat gearbeitet und sich abgezappelt in der Hoffnung, er könne irgendwie zusammenfügen, was nicht zusammenpasst. Hat gesät und gesät, aber der Boden war trocken. Vertrauen in den Glauben hat auch nicht geholfen. Wäre vielleicht auch eine gelungene Lebensführung geworden. Wenn er denn hätte führen dürfen.

Ich habe einige Zeilen, für das Mitteilungsblatt des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (Wien) geschrieben. Hier sollten sie auch gelesen werden können:

Krzysztof Michalski

Am 11. Februar 2013 ist Krzysztof Michalski gestorben. Überraschend auch für jene wenigen Personen, die von seiner schweren Erkrankung wissen mussten. Er hat es seinem Tod nicht schwer gemacht, und der hat ihn dafür vor Qual und Siechtum bewahrt. Krzysztof war 64 Jahre alt und hatte noch sehr viel vor. Sein Feld war nicht bestellt, und er war nicht müde. Jetzt sind alle Fäden zerrissen, und die Zurückgebliebenen starren bestürzt und ratlos auf die nutzlos am Boden liegenden losen Enden.

Meine Verbindung zu ihm war relativ jung. Die heroischen Zeiten des Instituts waren schon verflossen als Jaqueline Hénard uns zusammenbrachte.

Ich wusste wohl, daß es in Wien ein kleines, von deutschen und polnischen Intellektuellen gegründetes Institut gab, das sich dem aussichtslos wirkenden Vorhaben gewidmet hatte, über Personen und treffend gewählte Sachthemen, seien es philosophische, politische, ökonomische, wissenschaftliche oder alltagsweltliche, Ost und West zusammen und einander näher zu bringen, um auf diese Weise den widernatürlichen Vorhang, der sich anschickte, das politisch auseinandergerissene Europa auch geistig und kulturell völlig voneinander zu entfremden, wenn nicht aufzubrechen, so doch vielleicht anzubohren.

Aber ich hatte auch gehört, daß das offensichtlich überspannt Idealistische, das trotzig gegen die Realität auf Vernunft und Wort Hoffende, das dieses Institut und seine Menschen kennzeichnete, in Wahrheit äußerlicher Schein und Propaganda für Naive sei, die nicht sehen wollten, daß das Unternehmen vom KGB finanziert werde oder, wie andere behaupteten, vom CIA, während wieder andere, die von den freundschaftlichen Beziehungen gehört hatten, die Michalski mit Papst Johannes Paul II verbanden, entschieden den Vatikan als geheimen Steuermann und Financier ins Gespräch brachten.

Jaqueline Hénard beruhigte meine irritierte Nachfrage mit dem ironischen Hinweis, dass vermutlich alle drei Organisationen gleichzeitig das Institut finanzieren würden und gab damit zugleich einen Hinweis auf des Rektors innere Unabhängigkeit und Freiheit einerseits und andererseits auf eine Fähigkeit von Krzysztof Michalski, die ich in dieser Form bis dahin bei keinem Wissenschaftsmanager beobachtet hatte – die Fähigkeit, auch noch mit dem verbohrtesten Bürokraten und dem vernageltesten Geldgeber in einer Weise umzugehen, daß ihm niemand die Strapazen, die Kränkungen und die Niederlagen, die er in diesem Geschäft hinnehmen musste, ansah. Er war ein grandioser Fundraiser, ein Bittsteller für seine Sache, dem kaum jemand widerstehen konnte und nur im vertrauten Gespräch unter vier Augen konnte man lernen, welche Last dem feinsinnigen und sensiblen Mann diese Aufgabe bedeutete.

Auch ich konnte nicht widerstehen, als er mich nach einem ersten und relativ kurzen Gespräch bat, mich in die Dienste des Vereins nehmen zu dürfen – eine überraschende Bitte für mich, der ich nichts anzubieten hatte, als eine kurzfristige Erfahrung in der Wissenschaftspolitik und einen hartnäckigen pädagogischen Eifer in meinen Fächern Rechtstheorie und Rechtsgeschichte.

Für mich war es eine leichte Entscheidung. Ich war sofort gefangen von dem tiefen Ernst und der absoluten Glaubwürdigkeit des Mannes, der meine nicht eben höfliche und durchaus skeptisch-apotropäisch formulierte Eingangsfrage, ob denn das Institut aufgrund des Falls der Mauer und des Zusammenbruchs des Ostblocks nicht Daseinszweck und Rechtfertigung eingebüßt hätte, weil das, was dort sieben Jahre lang diplomatisch, verschwiegen und mühsam organisiert worden war, nämlich das ungezwungene, freie und unbeobachtete Gespräch zwischen den verschiedensten Angehörigen der beiden Blöcke, jetzt jederzeit zwanglos und offen möglich geworden sei, erstaunt und ein wenig amüsiert parierte:

Ob ich denn wirklich der Meinung anhänge, so fragte er freundlich zurück, daß mit der Demontage des Eisernen Vorhangs die kulturelle Einheit Europas wieder hergestellt sei, so daß die Aufgabe, die er vor wenigen Jahren mit seinen Kölner Freunden Cornelia Klinger und Klaus Nellen begonnen habe, erledigt wäre und dem weiteren Gang der Dinge tatenlos zugesehen werden solle? Richtig sei, daß ein gravierendes Hindernis aus dem Weg geräumt worden sei, aber nicht mehr. Und nicht weniger richtig sei auch, dass jetzt, so denn erst alle, die in Betracht kämen, in der Europäischen Union zusammengefasst seien, die Aufgabe ganz eigentlich erst beginne, denn schließlich müsse nun dafür gesorgt werden, daß sich die europäische Welt verstehen lerne, daß sie über sich reflektiere und daß aus dieser Reflexion ein Strom ständigen Wandels hervorgehe.

So definierte der Erstaunliche seine und seiner Mitstreiter Aufgabe und ich nahm geehrt das Angebot an, ihnen dabei ein wenig behilflich zu sein. Ich lernte Józef Tischner kennen, den ersten Präsidenten des Instituts, der die kleine Einrichtung vom ersten Tag an fürsorgend begleitete, sah die tiefe Zuneigung und Verehrung, die Krzysztof diesem katholischen Priester und Krakauer Philosophieprofessor entgegenbrachte und seine tiefe Trauer, als er dem langsamen und langen Sterben des liebenswürdigen Mannes zusehen musste. Ich durfte mich mit Cornelia Klinger, der feinnervigen Philosophin und stillen Gefährtin, mit Klaus Nellen, dem rastlosen Arbeiter, Schöpfer und Leiter von „Transit“, und Janos Matyas Kovacs, dem umsichtigen ungarischen Zuerwerb des deutsch-polnischen Trios anfreunden.

Ralf Dahrendorf tauchte auf und Ulrich Voswinckel, der Vorsitzende des Stiftungsrates der Hamburger Körberstiftung. Mit ihnen, die stellvertretend für die zahlreichen intellektuellen und finanziellen Unterstützer stehen können, wurde das Institut in die Lage versetzt, sein riesiges Osteuropa-Projekt , das in zahllosen Besuchen, Evaluationen, Bewertungen, Preisvergaben, Entwürfen, Projekten , Gründungen, Vorschlägen und Ratschlägen für die osteuropäischen Universitäten bestand, mit nachhaltigem Erfolg durchzuführen.

Damals und mit diesem Unternehmen ist das Institut in sein zweites Leben, sein gesamteuropäisches Leben gestartet und hat es mit den schönsten jährlich ausführlich dokumentierten Erfolgen, die zuletzt auch in ersten, aber nicht vorläufigen transatlantischen Beziehungen kulminierten, fortgesetzt. Zahllose Wissenschaftler, Politiker und Manager aus den verschiedensten Lebensbereichen haben die permanente Einladung zur Reflexion angenommen und sind bereichert in ihre Residenzen zurückgekehrt. Der aus den Felsen der Versteinerung geschlagene Quell hat knapp 30 Jahre gesprudelt und jedenfalls ein guter Teil von Michalskis Traum konnte verwirklicht werde.

Jetzt hat das Institut seinen Architekten und Führer verloren, aber nicht seinen Motor und seine Kraft. Es wird den Atem anhalten und zusehen, wie es ohne Stocken in die von Krzysztof Michalski gewiesene Richtung zu laufen hat.

Obendrein gibt es Hoffnung.


Michalski hatte nicht nur Philosophie studiert. Er philosophierte auch. Seine Nietzsche-Studien, die zuerst auf Polnisch und dann auf Englisch erschienen sind, werden absehbar auch auf Deutsch vorliegen. Dann werden wir wieder Krzysztof Michalski zuhören können. Manche werden ihn dabei von einer Seite kennenlernen, von der sie, als er noch lebte, allenfalls etwas geahnt, aber nichts gewusst haben. Für alle aber werden sein Charme, seine klugen Augen und sein ruhelos suchender Geist wieder präsent sein.