Mit der Vorhaut – nicht mit meiner eigenen, sondern mit der Vorhaut an sich – habe ich mich schon lange nicht mehr beschäftigt. Und ich dachte auch nicht, daß ich noch jemals Veranlassung dazu hätte. Vor 50 Jahren war das anders.

Ich las den vatikankritischen Roman eines Franzosen oder Italieners, in dem ständig von einem sanctum praeputium die Rede war. Den Namen des Autors habe ich längst verloren, aber ich weiß noch, daß es darum ging, an welchen Orten und unter welchen Kirchen man sich darum stritt, das einzige, das echte, das wahre etc. praeputium zu besitzen und es deshalb angemessen verehren zu dürfen. Ein Streit, der wohl nie entschieden wurde und von dem in den katholischen Gegenden meiner Jugend nie die Rede war. Denn damals war man gerade damit befasst, den offiziösen Anstrengungen, das liebe Jesulein zu einem Arier zu machen, wenigstens nicht deutlich zu widersprechen. Also bedeckte man das vorhautlose Geschlechtsteil des Gottessohnes lieber mit dem Mantel des Schweigens als diesen eindeutigen Beleg seines Judentums zur Sprache zu bringen und dann das Fehlen der heiligen Vorhaut irgendwie zu entschuldigen (Versehen? Raub? Strafe?).




Damals habe ich in dem wunderbaren, inzwischen längst verschollenen und kaum noch nützlichen, allgemeinen, verdeutschenden und erklärenden Fremdwörterbuch des Dr. Johann Christian August Heyse nachgesehen und fand praeputium nicht, so daß feststand, daß es sich nicht um ein „Fremdwort“, sondern um ein fremdes Wort, eben ein lateinisches handeln würde, mit der Folge, daß ich das Handwörterbuch von Georges konsultierte und dort neben „Vorhaut“ gleich noch die schöne Wendung des Kirchenvaters Laktanz (250-320) fand: circumcidite praeputium cordis vestri (Beschneidet die Unreinheit Eures Herzens!), wo man in der Metapher schon einen der vielen Gründe für die Beschneidung entdecken kann.

Damit war die Angelegenheit für mich erledigt und als Bildungsgut abgetan – bis das Kölner Landgericht tätig wurde und einen Beschneider zum Körperverletzer ernannte, womit diese ganze unsägliche Lawine losgetreten wurde, die jetzt seit Wochen alle Medien, die Politiker, die zahllosen Verbände und Bünde von Interessenvertretern aller Art beschäftigt. Zunächst dachte ich, der Sturm würde sich schnell legen, denn angesichts der Probleme mit denen unsere Abgeordneten und Regenten erschöpfend beschäftigt sein sollten, war ich der irrigen Meinung, sie würden sich auf den Standpunkt stellen, sie hätten andere und wichtigere Sorgen als die Vorhäute der Muslime und Juden. Aber wenn die letzteren den Holocaust zitieren und die ersteren den Kulturimperialismus der eingeborenen Vorhautträger beklagen, versinken Euro, Rettungsschirm, Rente, Energie, Endlager, Benzinpreis usw. usf. in der allgemeinen Bestürzung und machen allerlei Bekundungen, Besänftigungen, Beteuerungen und – natürlich – Gesetzeswünschen Platz.

Dem allen kann man sich so spielend leicht entziehen wie den verschiedenen Fest- und Feiertagen, indem man einfach Pilze suchen geht oder neue Bücher liest oder das Kino frequentiert oder was an schnellen und harmlosen Antifeiertagsvergnügungen sonst noch jahreszeitlich angeboten und geboten sein könnte. Bei der Vorhaut geht das anscheinend nicht. Zunehmend werde ich nach meiner Meinung gefragt als Jurist, als Mensch, als Mann, als  Professor – bis ich mich schließlich genervt selbst nach meiner Meinung frage und merke, daß ich überhaupt keine habe, weil ich die Sache bislang reichlich läppisch fand, so daß ich mich jetzt tatsächlich hinsetzen und mir eine Meinung bilden muß, damit ich bei der nächsten Nachfrage nicht wieder sagen muß:  „Deine Sorgen möchte ich haben.“

Beginne ich also als Jurist, denn da scheint mir die Sache am einfachsten. Das Abschneiden einer Vorhaut, sofern es nicht die eigene ist, erfüllt den Tatbestand der strafgesetzlich geregelten Körperverletzung, daran gibt es nichts zu drehen und zu deuteln und alle Versuche, diese Feststellung durch Betonung der Kleinheit, der Winzigkeit, der nahezu Unsichtbarkeit, Schmerzlosigkeit und absoluten Harmlosigkeit dieses Vorgangs – und was der infantilen Einfälle der Beschneidungsfreunde mehr sind – aus der Welt zu schaffen, sind nichtig. Selbst wenn der Reformjude Abraham Geiger seinerzeit maßlos übertrieben hätte („ein barbarisch blutiger Akt, der den Vater mit Angst erfüllt, die Wöchnerin in krankhafte Spannung versetzt“) oder seine Erfahrung jedenfalls heute als überholt anzusehen wäre: es bleibt eine Körperverletzung wie alles was die körperliche Integrität des Menschen verletzt.

Gehen wir also ohne Zögern zur Frage über, ob diese Verletzung rechtmäßig oder rechtswidrig sei, dann erhalten wir die jahrhundertealte Antwort: volenti non fit iniuria. Wer einverstanden ist, dem geschieht kein Unrecht. Wenn ich zustimme, daß mir der Bauch aufgeschnitten wird, kann ich mich hinterher nicht ob dieses Schnittes als solchen beklagen. Also: rechtmäßig und damit basta.

Bleibt das kleine Problem, daß der Säugling oder das Kind, solange es Kind ist, nicht zustimmen kann, weil es tatsächlich oder rechtlich (noch) nicht in der Lage ist seiner Verletzung zuzustimmen. Aber dafür, so sagen uns die Juristen und die anderen, haben wir schließlich die Eltern. Erziehungsberechtigte und Sorgeberechtigte und ergo auch Zustimmungsberechtigte. Wenn sie zustimmen scheint alles klar.

Bleibt also bloß noch die Frage ob wir Ihnen gestatten sollen, daß sie zustimmen oder ob wir es ihnen verbieten können. Wir, die anderen, der Staat, unser Recht, unsere fdGO, die  freiheitlich demokratische Grundordnung?

Manchmal gestatten wir die Gestattung, etwa, wenn die Eltern ihren Säugling impfen oder dem Kleinkind die Mandeln entfernen lassen. Wir blicken auf ihre Motive und sagen: „sie tun es um der Gesundheit und des Wohles des Kindes willen. Das ist zu loben.“ Manchmal ersetzen wir sogar die Gestattung, wenn sie von den Eltern verweigert wird, z.B. um eine lebensrettende Bluttransfusion zu ermöglichen, wenn die Eltern behaupten, sie sei Sünde wider irgendein göttliches Gebot.

Also wir nehmen uns das Recht, die Zustimmung zu prüfen. Das ist auch richtig so. Wir nehmen sie nicht einfach hin, sondern wir wollen, daß sie eine rechtlich anerkannte, von unserer Rechtsüberzeugung gebilligte Zustimmung sei. Das geschieht offensichtlich am einfachsten durch ein entsprechendes Gesetz. Unsere legislators und lawmakers verkünden: Wenn die Eltern zustimmen, dann ist die Sache rechtmäßig. Geschieht dies, was sich abzeichnet, dann hat sie auch für mich rechtmäßig und nicht rechtswidrig zu sein. Basta.

Ich kann allenfalls noch mäkeln, daß von „zustimmen“ hier schwerlich die Rede sein könne, denn die Eltern organisieren schließlich den ganzen Vorgang, stimmen gewissermaßen sich selbst oder allenfalls der (ihrer) Gemeinschaft der  Beschneidungsfreudigen zu. Aber das sind begriffliche Quisquilien, die die demokratische Rechtmäßigkeit der Sache letztlich nicht tangieren können.

So, scheint es, wird die Sache laufen – und damit ist alles gut.

Mir gefällt sie dennoch nicht. Warum? Weil mir die Motive der Eltern nicht gefallen. Wenn es um die Gesundheit geht, habe ich kein Problem.  Aber Beschneidung ist nicht Impfung und die circumcisio betrifft nicht die Mandeln. Das behauptet auch keiner. Manchmal heißt es zwar, die Sache sei auch gesund. Reinlichkeit (siehe Laktanz!), allerlei Keime, Bakterienversteck etc. Auch ästhetisch (im Internet hält einer [eine?] dagegen: “sieht beschissen aus“!) Die Geschlechtslust würde auch eher verlängert und keinesfalls verkürzt etc. Aber alles umstritten.

Exkurs: Habe meinen Freund Roger Berkowitz gefragt, was er von dem Geschlechtslustargument halte. Er sagte völlig überzeugend, es fehle ihm die Möglichkeit des Vergleichs. Schließlich sei er nicht in der Situation des Griechen Teiresias (der blinde Seher war bekanntlich sieben Jahre eine Frau und konnte deshalb seiner Männerwelt viel von der immensen  Überlegenheit  weiblicher Geschlechtslust erzählen). Meinte aber, ich könne im Gegensatz zu ihm das Teiresias-Syndrom noch erleben und dann berichten – was ich im Hinblick auf den ungewissen Ausgang und die Irreversibilität aber abgelehnt habe, so daß wir uns nur unsere jeweilige Zufriedenheit mit unseren Zuständen versichern konnten.

Weiter: Gesundheit, Ästhetik, Lust, Folgenlosigkeit – alles umstritten, aber auch belanglos. Denn immer geht es nur um ein auch-Argument! Auch gesund, auch hygienisch, auch ästhetisch. Keiner behauptet, daß der Schnitt eben, gerade und nur deswegen erfolge. Er erfolgt wegen der Religion (Gott verlangt es), wegen der Tradition (3000 Jahre Beschneidungskultur!), wegen der Sitte und der Identität (man erkennt sich am Mangel). Ehrenwerte Gründe.

Mag sein. Mag sein. Mir leuchten sie nicht ein. Ich glaube nicht an einen Bund mit Gott durch Schwanzkupieren. Weder bei Menschen noch bei Hunden.  Die Tradition ist gegeben – aber sie sollte aufgegeben werden. Die Todesstrafe war auch Tradition und wir haben sie ohne Kulturverlust aufgegeben. Und die berühmte Identität? Ein Mittel, das die Nazis angewendet haben, um ihrer Opfer habhaft zu werden, hat auch in seiner sublimsten Form keine Würde.

Also: In meiner Rechtsordnung wird diese „Zustimmung“ nicht als gerechtfertigt angesehen. Ich lehne sie ab und bestrafe den Beschneider als Körperverletzer.

Das ist das Ideal. So wird es nicht laufen. Ich brauche nur den Nachrichten zu lauschen. Allerdings darf mich das nicht irritieren. Ich bin schließlich dabei, mir eine Meinung zu bilden. Und die folgt natürlich dem Ideal. Weshalb ich hier auch nicht stehenbleiben kann. „Blutiger Akt“ hin oder her – so dramatisch ist die Sache auch wieder nicht. Traumatisierte Säuglinge? So what. Schließlich dulde ich doch auch sonst allerhand.

Ich, ungefragt christlich getauft, sehe gelassen zu, welchen horrenden Unsinn viele Eltern und noch mehr die Pfaffen tagtäglich in die Hirne wehrloser Kleinkinder blasen. Ich toleriere gelassen eine Unsumme von Schwachsinn: von der Jungfrauengeburt bis zur Auferstehung im Fleische, von der Wiedergeburt, Fegefeuer, Gott mit Bart und ohne Bart, bis zu den Engeln und Teufeln. Ich preise die Religionsfreiheit und die Meinungsfreiheit, bin nicht dafür, daß man die Leugner der Vernunft, die Verhöhner dessen, was anderen heilig ist, einsperrt. Ich höre sogar häufig im Deutschlandfunk den Sonntagspredigten zu und fühle doch keine andere Regung als ein erschrockenes Staunen darüber, was der Mensch so alles zu glauben vermag. Und da soll ich denen, die meinen, sie opfern dem Seelenheil ihrer Kinder ein Stückchen von dessen Haut, ins Handwerk pfuschen? Das kommt sichtlich erst in Frage, wenn ich all diese anderen Verbrechen aus meiner idealen Rechtsordnung getilgt und verboten habe, die geistigen und die seelischen Untaten, die von Eltern, Erziehern und ähnlichem Volk unermüdlich und  millionenfach begangen werden. Danach werde ich mich auch den Beschneidungsfreunden zuwenden.

Ich habe mich überschlägig und in grober Skizze ans Werk gemacht und die ideale Rechtsordnung entworfen, gesäubert von allem, was mir nicht einleuchtet und was ich für Humbug, Verführung, Verdummung usw. halte.

Sie jetzt sine ira et studio betrachtend, gefällt sie mir nicht mehr so besonders. Es scheint mir, daß sie verdammt aussieht wie eine Diktatur.

Vielleicht bleibe ich doch besser bei der sich abzeichnenden Realität: Schneidet ab, soviel ihr wollt! Ich finde Euch zwar hirnrissig, aber mein Recht ist auf Eurer Seite.

Jetzt habe ich eine Meinung.