Das Lesen, das habe ich schon notiert, fällt den Rekonvaleszenten nicht so leicht, wie die Gesunden meinen. Vor allem dem Rekonvaleszenten DS, was er zwar unumwunden zugibt – aber nicht jeder fragt ihn. Liebenswürdig und unverdrossen schicken Freunde, Kollegen, Bekannte und Unbekannte ihre Büchlein und Bücher. Er betrachtet sie – wie eh und je mit Freude und Respekt – versucht sich ein Bild vom Inhalt zu machen, findet sie interessant (welcher mit Verstand und Leidenschaft geschriebene Text ist am Ende nicht irgendwo für jeden interessant?), denkt: das muss ich lesen, danach werde ich mich bedanken – und weiß doch schon (oder ahnt zumindest, will es aber nicht eingestehen), daß er überhaupt nicht in der Lage sein wird, das schöne Geschenk zu studieren.
Vielleicht nicht einmal dann, wenn er der Lesewelt nicht für ein Vierteljahr entzogen worden wäre, hätte er den Text gelesen, aber er wäre jedenfalls der unvergessenen Lehre des großen Coing gefolgt, der ihm, vor 58 Jahren, als er die Dissertation von Dieter Simon erhielt – ein unbeschreiblich langweiliges, höchst spezialisiertes und ergebnisarmes, rechtspapyrologisches Produkt – postwendend einen knappen Zweisatz zukommen ließ, in welchem er seine berechtigte und richtige Absicht, niemals einen Blick in die Zusendung zu werfen, mit den Worten kundtat: „Vielen Dank für das interessante Buch. Ich freue mich auf seine Lektüre“.
Aber das kann man eben nur sofort, d.h. auf der Stelle machen, wenn noch jedermann einsehen MUSS, daß es unmöglich gewesen ist, angesichts der Umstände, Kürze der Zeit und weithin bekannten Arbeitslast, auch nur die Gliederung zu betrachten. Zwei Tage später ist es schon zu spät. Nur wer den Eindruck erwecken möchte, er wolle sich den Autor vom Leibe halten (was Coing damals zweifellos wollte), kann dann noch so schreiben. Alle anderen müssen sich irgendeine positive, d.h. anstrengende und vielleicht sogar geflunkerte Aussage abringen, und sei es auch nur über den Einband, weil andernfalls der Autor nicht einmal glauben wird, daß der Beschenkte das Geschenk überhaupt GESEHEN hat. Was den Schenker zwar häufig weit weniger kränkt als der Beschenkte meint, aber es gibt schließlich Sitten und Formen.
Wem aber das Leben drei Monate genommen hat, der hat überhaupt keine Chance sich zu verhalten, wie er sich vielleicht verhalten hätte, wäre ihm diese Zeit nicht abhanden gekommen. Er sitzt beklommen an seinem Schreibtisch, blickt auf den kleinen Bücherberg auf dem Beistelltisch und fragt sich, ob er das jetzt alles kommentarlos einordnen (wo?), verkaufen (pfui!), verschenken (an wen?) oder einfach vergessen soll. Also beugt er sich endlich gerührt über den aparten Stapel und notiert:
1. Lau Ulrich, Lüdke Michael, Exemplarische Rechtsfälle vom Beginn der Han-Dynastie: Eine kommentierte Übersetzung des Zouyanshu aus Zhangjiashan/ Provinz Hubei [Study of Languages and Cultures of Asia and Africa, Monograph Series, 50] Tokyo University of Foreign Studies: Research Institute for Languages and Cultures of Asia and Africa (ILCAA), 2012, 365 S.
Mit der nachholenden industriellen Revolution sah sich der chinesische Boden gezwungen, seit den 70er Jahren des 20 Jh.s eine üppige Menge geschichtlicher Zeugnisse für neugierige Historiker freizugeben. Nicht nur die weltweit bekannt gewordene Terrakotta-Armee des Qin Shihuangdi , sondern auch zahlreiche Dokumente mit juristischen Texten aus alten und ältesten Zeiten sind zu Tage getreten. Sie haben der älteren chinesischen Rechtsgeschichte, für die bis dahin hierzulande nahezu nichts und in China nicht sehr viel mehr geschehen war, erheblichen Auftrieb gegeben und – da das Meiste bislang weder publiziert noch gar übersetzt und kommentiert vorliegt – einen Ozean für Forschungs- und Entdeckungsreisen eröffnet. Ulrich Lau, dem ich noch Im MPI für Europäische Rechtsgeschichte begegnet bin, hat zusammen mit Michael Lüdke jetzt einen großartigen Band publiziert, der auch für den absolut Unkundigen und Sprachunmächtigen aufgrund seiner sorgfältigen und eingehenden Kommentierung der Texte aus dem 2 Jh. v. Chr. eine Fülle von Aufschlüssen und Anregungen nicht nur für die frühchinesische Rechtsgeschichte bereithält. Publiziert wird das Zouyanshu, eine Sammlung beispielhafter Straffälle aus der zweiten Hälfte der 3. und dem ersten Jahrzehnt des 2. Jh. v.Chr. Die Mustersammlung wurde den unteren Behörden als Entscheidungshilfe in Strafverfahren zur Verfügung gestellt. Eine aufregende und amüsante Lektüre.
2. Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Hg.), Studien zu Geschichte, Theologie und Wissenschaftsgeschichte [Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, NF, Bd. 18, Sammelband 3], Berlin: De Gruyter, 2012, 337 S.
Ein sehr akademisches Akademieprodukt der Göttinger. Unendlich gelehrt und für die Wenigen, die von den Dingen nicht nur etwas verstehen, sondern sich auch für die Fragestellungen der versammelten Gelehrten interessieren, eine immense Fundgrube an Belehrungen, Nachweisen und Informationen. Für die Autoren, sollten sie auf großes Publikum oder weitreichende Aufmerksamkeit spekulieren, sind diese Akademiepublikationen Auszeichnung und Beerdigung zugleich, sollten sie jedoch, wie gewöhnlich, bescheiden für ein bis zwei Dutzend Gleichgesinnter schreiben, stehen sie vor einer durch Schönheit des Drucks und Solidität der Ausstattung ausgezeichnete Wiedergabe ihrer Arbeitsergebnisse.
Vier dicke Beiträge und einen im Zeitschriftenformat enthält der Band:
Ludwig Walther (S.3 – 52) beschäftigt sich mit dem Juristen und Humanisten Nicolaus Reusner (1545-1602), der sich unter anderem mit der Sammlung lateinischer Briefe befasste und zwischen 1598 und 1600 ein vierbändiges Florilegium (Epistulae Turcicae) veröffentlichte, ein opus antiturcicum, in dem die ersehnte Eintracht der konfessionell gespaltenen christlichen Staaten angesichts der türkischen Bedrohung beschworen wird. 717 Briefe hat Reusner aus verschiedenen publizierten und unpublizierten Quellen zusammengetragen. Walther beschreibt und analysiert die Ausgabe und ediert und kommentiert anhangsweise zwei Briefe, beide erfunden und von Reusner, dessen Gutgläubigkeit Walther nicht ausschließen möchte, aus deutschen Zeitungen entnommen und ins Lateinische übersetzt – eine wilde türkische Kriegserklärung von Sultan Murad III an Kaiser Rudolf II. und ein fabulöses Bündnisangebot des Schahs Mohammed Khodabanda an König Philipp II von Spanien.
Eduard Lohse (S. 53 – 76) erzählt die Geschichte der 4 kanonischen Evangelien: „Von einem Evangelium zu den vier Evangelien. Zu den Anfängen urchristlicher Literatur“. Ein nicht gerade unbeackertes Feld und deswegen mehr ein Forschungsbericht als Forschung.
Ganz anders dagegen Wolfgang Künne (S. 77 – 126) der ausführlich über das Verhältnis des Prager Mathematikers Bernard Bolzano (1781- 1848) zu Goethe berichtet – worüber es freilich jenseits des Umstandes, daß Goethe den „jungen Mann“ schätzte, nicht viel zu erzählen gibt, so dass sich der Blick wie von selbst auf die Schüler Bolzanos und deren Verhältnis zu Goethe richtet, wobei Künne einem gewissen Michael Josef Fesl, „der vor Bolzanos Augen immer wieder die Fahne Goethes geschwenkt“ habe, eine besondere Rolle zuweist.
Otto Kaiser (S.127- 224) ediert und annotiert 36 Briefe des Göttinger Professors Heinrich Ewald (1803 – 1875), der einen Lehrstuhl für morgenländische Sprachen und Altes Testament innehatte an seinen Marburger Kollegen Hermann Hupfeld (1796 – 1866) nebst 2 Gegenbriefen von Hupfeld. Alle Briefe wurden zwischen 1829 und 1842 gewechselt und dokumentieren sehr schön, was sich die Recken der Hebraistik und Semitistik in diesen Zeitläuften (von denen nicht die Rede ist) über ihren Forschungsgegenstand mitzuteilen hatten, bevor sie sich wegen des wechselseitigen Verdachts, der jeweils andere sei auf dem falschen wissenschaftlichen Wege nicht mehr leiden konnten und deshalb auch nicht mehr schrieben.
Karin Reich (S.225- 334) hat sich seit einigen Jahren mit dem bekannten Mathematiker, Astronomen und Geologen Carl Friedrich Gauß (1777 – 1856) beschäftigt und kürzlich eine ausführliche Biographie des Geologen und Mineralogen Wolfgang Sartorius von Waltershausen (1809 – 1876) verfasst. Sartorius war eng mit Gauss verbunden, dessen erste Biographie er verfasst hat. Den Briefwechsel zwischen den Beiden – wenn man denn von einem „Wechsel“ sprechen mag, wenn von 20 Briefen nur 4 von Gauß an S. gingen – hat Reich jetzt vorgelegt, wobei sie die knappe Edition (S. 287- 334) mit einem reichen, nämlich 60seitigen Schatz an Beiwerk verziert hat, das man niemals in einer Publikation mit dem Titel „Der Briefwechsel von Carl Friedrich Gauß mit Wolfgang Sartorius“ suchen würde – etwa die Früh- und die Blütephase der erdmagnetischen Forschungen in Göttingen, der Lebensweg von Johann Benedikt Listing, die Italienreisen des Sartorius und seiner Gehilfen usw. – ein wenig zweckmäßiges und haltlos wirkendes Vorgehen.
3. Bernadete Seth, On Plato’s Symposium. Über Platons Symposion, (hgg. von Heinrich Meier), München, Carl Friedrich von Siemens Stiftung (Reihe, 1994, 3.Aufl. 2012, 110 S.
Heinrich Meier, dem es im Laufe der Jahrzehnte geglückt ist, mit sicherem Griff aus den Vorträgen, die auf seine Einladung im wissenschaftlichen Programm der Siemens-Stiftung gehalten wurden, jene auszuwählen, denen, wie man so sagt, ein bleibender Wert zukommt, hat sich mit der kleinen, auf schwerem Papier sorgfältig gedruckten Reihe ein luxuriöses Vergnügen bereitet, den Beziehern der Reihe Kleinodien kostbarer Erinnerungen gesichert und gleichzeitig sein Gespür für den exzellenten Wissenschaftler dokumentiert. Erneut gedruckt wurde der Vortrag des Amerikanischen Philosophen und Gräzisten Seth Bernadete (1930-2001), verbunden mit einer, in der Einführung (S.6 - 27) verborgenen, originellen Bildinterpretation des bekannten Gemäldes von Anselm Feuerbach (Gastmahl des Plato) durch Meier selbst.
4. Rogalla Irmhild, Moderne Arbeit, Moderne Berufe. Ein interdisziplinäres Modell, Berlin: R & W Verlag der Editionen KG, 2012, 334 S.
Eine ganz andere Welt. Ein Buch aus der Praxis, das Praxis will, aber nicht irgendeine, sei es auch durch Erfolg legitimierte, sondern eine reflektierte, theoretisch abgesicherte und begründete. Daß „Beruf“ und „Berufe“ irgendwie nicht mehr das sind, was sie einmal waren, als es noch den Sattler, den Schuster, den Schreiner, den Maurer etc. gab, hat jeder gemerkt. Die Arbeit war eben eine andere, sagt man, und belässt es dabei. Rogalla widmet sich dem „Warum“ und „Wie“ der „Erosion der Beruflichkeit“ und versucht auf historisch gefestigter Grundlage ein berufswissenschaftlich fundiertes Handlungsmodell zu entwickeln, das sich als empirisch abgesichert und normativ akzeptabel begreift. Vermitteln will sie die Befähigung zum Handeln in konkreten Erwerbssituationen. Ein gedankenreiches Buch dessen erkenntnistheoretische Verankerung es für alle in anwendungsorientierter Wissenschaft Tätigen beachtenswert macht.
5. Lüderssen Klaus, Rechtsfreie Räume, stw 2042, Berlin: Suhrkamp Verlag, 2012, 694 S.
Komische Parallele: im Zusammenhang mit Freund Lüderssen (wir waren beileibe nicht immer derselben Meinung, aber in der Tiefe doch stets augenzwinkernd verbunden) scheine ich meinen Vornamen einzubüßen (vgl. Nr.13). Ich war zwar nie sonderlich glücklich mit "Dieter", diesem Kainsmal aus den großen Zeiten, aber ein „Victor“, wie meine Festschrift „Summa“ (S.694) zitiert wird, wäre mir eigentlich auch nicht recht gewesen, mag der „Sieger“ vielleicht auch ansprechender sein als der „Herr des Volkes“. Aber solche Lappalien vermögen den Genuss an dem Sammelband Lüderssenscher Aufsätze natürlich nicht zu mindern, denn hier handelt es sich tatsächlich einmal um einen Fall, bei dem die ebenso übliche wie falsche Legitimation eines Sammelbandes mit der Beteuerung, die Beiträge seien „weit verstreut“ und „schwer greifbar“, genauso richtig wäre wie die (ebenfalls nicht aufgestellte) Behauptung, daß potentielle Leser für eine solche Sammlung dankbar seien.
Viele Fest- und Gedächtnisschriften werden als früherer Druckort genannt, aber auch die FAZ, die FR und die NZZ, die bekannten Fachzeitschriften und das Rotary Magazin. 40 Beiträge aus (den letzten) 12 Jahren, ein stolzer Beleg – wenn es denn eines solchen bedurft hätte – für die immense Bildung, den weiten Horizont und die furchterregende Kreativität des Autors. Sieben Abteilungen hat Lüderssen gebildet: Primat der Autonomie (Hirnforschung, Embryonenschutz, Sterbehilfe); Schuld (die Ewigkeitsaufgabe des Strafrechts); rechtspolitische Grenzmoral (Folter, Krieg und Steuermoral), Logik und Hermeneutik (Meta-Methodologie); Paradigmenwechsel (Viktimologie, der „Deal“, die Opferperspektive); Interdisziplinarität (Geschichte, Literatur); Kreative Paradoxien (eine wunderbare Floskel für Zielkonflikte und einander Ausschließendes). Alles lesenswert, nie langweilig und immer undogmatisch, nicht standpunktlos, aber durch ständige Erweiterung der Perspektiven doch selbstrelativierend.
Vieles davon ist mir bekannt gewesen, vieles aber auch nicht. Zum Einstieg ist jedenfalls die einzige Erstpublikation (Retrospektiven auf den Frankfurter Auschwitz-Prozess, 233-253) zu empfehlen, bei dem es Lüderssen mühelos schafft, so gut wie alle seine Lebensthemen explizit oder beiläufig aufscheinen zu lassen.
6. Renn Jürgen, Damerow Peter, The Equilibrium Controversy. Guidobaldo del Monte’s Critical Notes on the Mechanics of Jordanus and Benedetti and their Historical and Conceptual Background [Max Planck Research Library for the History and Development of Knowledge, Sources, 2] Edition Open Access, 2012, 376 S.
Das Buch ist für jene, die seiner Sache kein großes Vergnügen entgegenbringen können, möglicherweise wenigstens als Format von besonderem Interesse. Der Text liegt gedruckt und on line als Open Access Publikation vor. Es gibt in der Forschungsbibliothek (Research Library) 3 Serien: Studien, Verhandlungen und Quellen. Der vorliegende Band gehört zu der Serie Sources, in welcher für die Wissenschaftsgeschichte relevante Primärquellen faksimiliert, transkribiert oder übersetzt angeboten, eingeführt und kommentiert werden sollen. Nicht mühelos zugängliche Quellen (Bücher, Manuskripte, Dokumente etc.) werden auf diese Weise einem unbegrenzten Publikum zur Verfügung gestellt.
Im vorliegenden, von Jürgen Renn und dem leider jüngst verstorbenen Peter Damerow betreuten Band geht es um die etwas läppisch wirkende Frage, ob eine aus dem waagrecht orientierten Gleichgewicht gebrachte Waage von sich aus wieder in den ursprünglichen Zustand zurückkehrt, ob sie in dem neuen verharrt oder in einen ganz anderen (etwa senkrechten) Zustand übergeht – eine Frage, deren Beantwortung offenkundig von Umfang und Präzision des vorhandenen mechanischen Wissens abhängt. Weshalb man sich unschwer vorstellen kann, daß vor der Gewinnung dieses Wissens – und der dazu gehörenden Begrifflichkeit! – verschiedene Antworten auf die erwähnte Frage gegeben wurden und hat damit für die Gleichgewichtskontroverse unter den Wissenschaftlern der Renaissance ein erstes Verständnis gefunden. Bei der Verfolgung dieser Kontroverse bekommt man dann ein aufregendes Stück historischer Epistemologie zu fassen, weil unversehens die Wissensgeschichte uns auf die allmähliche Herausarbeitung und Strukturierung unserer wissenschaftlichen Disziplinen verweist.
Giovanni Battista Benedetti (1530-1590) hat ein Buch verfasst (Diversarum speculationum mathematicarum et physicarum liber) dessen Kapitel über die Mechanik (De mechanicis) von Guidobaldo del Monte (1545-1607) am Rande mit Notizen und Glossen versehen wurde. Aus diesen Glossen, deren erste übrigens die verärgerte Feststellung enthält, dass Benedetti die annotierten Zeilen von Guidobaldo abgeschrieben habe (hoc primum caput totum desumptum est a nostro mechanicorum libro tractatu de libra), rekonstruieren die Autoren ein Stück der Gleichgewichtskontroverse und deuten sie als Teil der säkularen Anstrengung das antike Wissen in die Moderne der Renaissance zu transformieren.
7. Gegenworte, Heft für den Disput über Wissen, 27. Heft: Grenzen der Wissenschaft, Frühjahr 2012, Berlin: Akademie-Verlag, 85 S.
Von mir gegründete Zeitschrift der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zum Zwecke selbstreflexiver, kritischer Betrachtung der Wissenschaften. Hazel Rosenstrauch hat ihr Gesicht geprägt, Wolfert von Rahden hat in unserem Sinne fortgesetzt, gesteigert und erfolgreich verhindert, daß aus den Heften die allerorts übliche Selbstdarstellungs- und Selbstbeweihräucherungssuada troff. 24 Beiträge verschiedenster Qualität – was man nach der Lektüre von zwei Sätzen immer schon sieht. In Gänze inzwischen ein wertvolles Archiv wissenschaftskritischer Beobachtungen und Notizen Zu meiner Verwunderung auch ein Text von mir selbst: über die leidige Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft. Den jedenfalls brauche ich nicht mehr zu lesen.
8. Brunozzi Kathrin, Das Vierte Alter im Recht [Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte, Band 271], Frankfurt: Klostermann 2012,317 S.
Das 4. Alter beginnt in der Wissenschaft je nach Schule bald mit 75, 80 oder 85 Jahren. Andere setzen auf den Zustand des Betroffenen und lassen das 4.Alter beginnen, wenn er auf Hilfe angewiesen ist, was naturgemäß viel früher oder viel später der Fall sein kann. Wenn beide (Kalender und Gesundheit) zusammentreffen, sind sich jedenfalls alle einig, daß dann das 4. Alter erreicht ist. Daß dann auch das Recht die Bühne betritt (Heimrecht, Betreuungsrecht etc.) liegt auf der Hand. Brunozzi analysiert und beschreibt den langsamen und umfassenden Prozess der Verrechtlichung der Lebensverhältnisse „Hochaltriger“ zwischen Adenauer und dem Ende seiner Republik.
9. Kuhli Milan, Carl Gottlieb Suarez und das Verhältnis von Herrschaft und Recht im aufgeklärten Absolutismus [Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte, Band 272], Frankfurt: Klostermann 2012, 303 S.
Der Titel sagt, dankenswerter Weise und heute eher selten, recht genau, was den Leser erwartet. Geschickt hat mir den Band das Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte, das seine ehemaligen Direktoren mit diesen Zusendungen über seine üppige Publikationstätigkeit auf dem Laufenden hält, und in gewisser Weise auch noch verwöhnt, denn der Nachlass schwillt an, weil die Texte, wie die Witwe Coing bewies, die sich stets argwöhnisch nach den Neuerscheinungen erkundigte, mit gewissem Gewinn verkauft werden können. Sollte ich jemals über den fleißigen Karl Schwartz , die Seele des ALR, des preußischen Allgemeinen Landrechts, arbeiten, werde ich diese Studie sicher mit großem Gewinn konsultieren.
10. Michalski Krzysztof, The Flame of Eternity. An Interpretation of Nietzsche’s Thought [Translated from the Polish by Benjamin Paloff], New Jersey: Princeton University Press, 2012, 231 S.
Daß Krzysztof Michalski , der weithin bekannte Direktor des Wiener Instituts für die Wissenschaften vom Menschen auch ein philosophischer Kopf ist, war gewiss vielen bekannt. Denn ohne einen solchen Kopf könnte man seinen Job, der ein unendliches Fundraising und einfallsreiches Bücken und Drehen (Wien!) vor Figuren verlangt, deren Geistesödnis man ansonsten vorsichtig umfahren würde, weder machen noch auch nur aushalten. Daß er aber auch veritabel philosophiert und sogar die Zeit findet, seine Inspirationen niederzuschreiben ist zweifellos weit weniger bekannt. Jetzt sind 9 Essays erschienen, die sich seinen Lektüren von Nietzsche verdanken. „Remarkable“ hat Charles Taylor, der Nietzsche allerdings auch für „enigmatic“ hält, über diese Texte gesagt, wobei man, was auch immer der amerikanische Soziologe ausdrücken wollte, nichts von der subtilen Ironie und dem tiefen Witz (im alten und neuen Sinn dieses schönen Wortes) verspürt, mit denen Michalski durch die Texte von Nietzsche geschritten, getanzt und geschwebt ist – was ich freilich sicher erst dann richtig genießen könnte, wenn es mir möglich wäre, das Buch in der polnischen Muttersprache des Autors zu lesen, wo, wie man noch durch das häufig spröde Gegenwartsenglisch fühlt, manches einfach anders tönen MUSS als es das jetzt tut. Vielleicht kommt bald eine deutsche Übersetzung, in der sich wohl manche Differenzierung wiedergewinnen ließe, denn schließlich hat Nietzsche seinen Obergedanken von der Ewigen Wiederkehr des Gleichen (die Vermählung von Sein + Werden, also von Kant + Hegel) und den lebenslangen Kampf mit Gott – die beiden Anker an denen M. rüttelt – auf Deutsch geführt und Michalski, dem jeder deutsche Sprachwinkel vertraut ist, ist ihm auf Deutsch begegnet.
11. Mahlmann Matthias, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 2. Auflage, Baden-Baden: Nomos, 2012, 368 S.
Ein interessantes Buch in dem viele Themen versammelt sind, die man erwartet, aber auch mancherlei, was überrascht. Das hängt offenbar damit zusammen, daß sich der Verf. bemüht, in klarer Einsicht in die aus historischen und gesellschaftlichen Gründen fragmentierte Überlieferung und die eurozentrische Beschränktheit unserer ideengeschichtlichen Tradition, seinen partikulären Standpunkt zu überwinden, in der Hoffnung, daß ihm „der tastende, vorsichtige und skeptische Durchgriff zu universalistischen Perspektiven“ gelingen möge. Was angesichts der feucht-fröhlichen Selbstverständlichkeit mit der viele Philosophen diese Überzeugung als Gewissheit voraussetzen, angenehm berührt.
Das Buch besteht aus 2 Teilen. Der erste Teil (Der Weg zu Demokratie und Menschenrechten – Geschichte, S. 19 - 242) endet mit einer knappen Selbstbeschreibung durch den Autor(242), der, nachdem er festgestellt hat, den von ihm „ausgewählten Teil der Ideengeschichte durchmessen“ zu haben – immerhin so gut wie alles, was gegenwärtig noch gut und teuer ist: Gesellschaftsvertrag, Determinismus, Systemtheorie, Hirnforschung, Emotivismus, Neoidealismus, Hegel und Marx, Feminismus, Nonkognitivismus, Diskurstheorie, Ökonomische Analyse etc. – fortfährt: „Dabei wurde eine ganze Reihe von systematischen Fragen formuliert und sogar die eine oder andere Erkenntnis gewonnen, die nunmehr die Grundlage bilden für einen Perspektivwechsel hin zu einer systematischen Erörterung zentraler Probleme der Rechtsphilosophie und –Theorie“. Womit dann der zweite Teil (Recht und ethische Orientierung – Systematik, S. 243 - 349) eingeleitet ist, wo dann Recht und Moral, Norm und Geltung, Willensfreiheit und Verantwortung, Gleichheit und Gerechtigkeit, Menschenwürde, die Wissenschaftlichkeit des Rechts und vieles andere zur Sprache kommen.
Querlesend fand ich nichts Aufregendes, aber viel Klares und Braves, wie es sich für ein gutes Lehrbuch gehört, das man guten Gewissens den Studierenden empfehlen würde, wenn man dazu Veranlassung hätte.
12. Otto Lars S., Klausuren aus dem Staatsorganisationsrecht. Mit Grundlagen des Verfassungsprozessrechts und der Methodenlehre [Tutorium Jura], Berlin, Heidelberg etc.: Springer, 2012, 476 S.
Das Buch hatte ich schon in präspitaler Zeit in den Fahnen durchgelesen und es gegenüber dem Autor, einem Mitarbeiter des Juraprofessors Ingolf Pernice und einem Mitdenker in meinem Seminar, als sehr gutes, sehr anspruchsvolles, womöglich ein klein wenig zu perfektionistisch und pädagogisch etwas rücksichtslos ausgeführtes Lehr- und Übungsbuch zum Staatsorganisationsrecht bezeichnet, dessen Durcharbeitung aber den Betreffenden zweifellos zum Spezialisten in dieser schwierigen und dynamischen Materie machen würde. In postspitaler Zeit ist dann der stattliche Band leibhaftig erschienen, und ich habe keinen Anlass das Urteil zu revidieren – es zu überprüfen aber auch nicht.
13. Vormbaum Thomas (Hrsg.), Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte, Band 12 (2011), Institut für Juristische Zeitgeschichte der Fernuniversität Hagen, Berlin: de Gruyter, 2012, 403 S.
Eine wirre Sammlung von achtzehn Beiträgen, angeblich zur Juristischen Zeitgeschichte, was aber sicher nicht ganz ernst gemeint ist, denn die Strafrechtskodifikation in Neapel von 1808 oder Feuerbach und das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813 sind sicher nur unter einen sehr spezifischen Begriff von „Zeitgeschichte“ zu subsumieren. Auch was z.B. Herr Marcelo A. Sancinetti über „das Denken der Aufklärung und das sogenannte ‚Verletzungsprinzip‘“ zu erzählen weiß, kommt nach ausgiebigem Verweilen in der Bibel und in Rom nicht einmal bis ins 19. Jahrhundert. Thomas Vormbaum, der die Beiträge im Vorwort kurz und elegant charakterisiert, benennt als Schwerpunkt des Jahrbuchs „Italienische Rechtsgeschichte und Italienische Autoren“ was der Sache jenseits der Zeitgeschichte sicher gerecht wird.
In der Abteilung Recht in der Kunst- Kunst im Recht findet man dann vier Texte, die bei einem (von Klaus Günther und Klaus Lüderssen betreuten) Symposion des Jahres 2009 (!) in Bad Homburg anlässlich einer Tagung über B. Schlinck, Der Vorleser und Jonathan Littell, Die Wohlgesinnten, vorgetragen wurden. Damit klärt sich auch plötzlich der Grund, warum mir dieser Sammelband zugeschickt wurde, denn die Redaktion (A.Gipperich/K.Kühne) hat einen der Beiträge zwar einem gewissen, bislang nicht weiter in Erscheinung getretenen Dieter Günther zugeschrieben (vielleicht eine charmante Kreuzung aus Dieter Simon und Klaus Günther?) – in Wahrheit stammt er aber von mir, was Vormbaum durchaus richtig gesehen hat. Es handelt sich um die Rezension einer größeren Menge von Littell-Rezensionen, deren Wiedererscheinen nach 3 Jahren eine gewisse freudige Überraschung auslöste.
14. Adomeit Klaus, Hähnchen Susanne, Rechtstheorie für Studenten (1979), 6.Aufl., Heidelberg etc.: C. F. Müller, 2012, 119 S.
Solche Bücher hat es schon immer gegeben. In meiner Studentenzeit hießen sie Schäffers Grundrisse, die es vermutlich immer noch gibt. In ihnen stand kaum je ein falscher Satz, aber im Ganzen war alles falsch, schrecklich falsch. Und dann gilt eben doch Adorno: Es gibt kein richtiges Lesen im Falschen. Wer Adomeit-Hähnchen liest, erlebt vielleicht die Richtigkeit eines der vielen Urteile der Verfasser: „>Erkenne Dich selbst< ist kein schlechtes Motto für die juristische Form des Ego-Trips“ (S.73). Man möchte sich wundern, daß es offenbar wirklich Studierende gibt, die derlei lesen. Aber der Erfolg gibt den Verfassern sichtlich Recht. Sechs Auflagen können schließlich nicht ohne heftige Nachfrage verkauft werden. Fragt sich bloß, welchem Satz dieser Erfolg Recht gibt? Vielleicht einem von Thomas Bernhard: „Die meisten Menschen sind schon bei ihrer Geburt in Liquidation gegangen“ (Verstörung).
15. Colin Peter, Bender Gerd, Ruppert Stefan, Seckelmann Margrit, Stolleis Michael (Hg.), Regulierte Selbstregulierung im frühen Interventions- und Sozialstaat, [Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte, Band 270: Moderne Regulierungsregime 2], Frankfurt: Klostermann, 2012, 286 S.
Zwölf historische Studien über Steuerung, deren Lektüre die Zweifel von Niklas Luhmann, daß Steuerung überhaupt möglich sei, eher bestärken dürfte als daß sie sie ausräumen würden. Mit prägnanten Ausnahmen scheint die Mehrzahl der Autoren allerdings die Skepsis des großen Systemtheoretikers nicht zu teilen, sondern sich der Hoffnung hinzugeben, daß aus der Schilderung des Scheiterns der Vergangenheit die blaue Blume für den Erfolg der Gegenwart erwachsen könne.
16. Zuletzt (erst vor einigen Tagen) kam:
Rückert Joachim, Seinecke Ralf (Hrsg), Methodik des Zivilrechts – von Savigny bis Teubner (1997), 2.Aufl. Baden-Baden: Nomos, 2012, 599 S.
Eine Anleitung „zum selbstständigen Umgang mit Methodenfragen“ verspricht das Vorwort. Das ist ein gewaltiges Versprechen, denn eben daran fehlt es überall, wo, wie in der Jurisprudenz üblich, die Szene vom stumpfsinnigen Subsumtionsvollzug beherrscht wird. Das Buch kommt, zumal ich die 1. Auflage verpasst habe (damals war ich gerade mit Praxis beschäftigt), nicht mehr auf den Invaliden-Stapel, sondern darf einen neuen eröffnen: Legenda!
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