Alexander Graf Lambsdorff, von dem einige sagen, er sei auch schon durch kluge Äußerungen aufgefallen, was ich weder bestätigen noch bestreiten kann, weil mir dieser Europaabgeordnete bislang nicht bekannt war, hat das Bundesverfassungsgericht der „Unkenntnis“ geziehen. Nicht der Unkenntnis an sich und überhaupt, sondern der Unkenntnis hinsichtlich aller „Vorgänge in Europa“, die der Abgeordnete selbstverständlich kennt. Weil das so ist, so geht der Gedanke weiter, kommt es zu „Fehleinschätzungen“, in deren Folge zu falschen Urteilen, und am Ende wird „der größte Mitgliedstaat Europas in seinem Handeln eingeschränkt“. Das ist fatal, denn dieser Mitgliedstaat sind WIR.

Beifall hat sich der Graf mit diesen Äußerungen nicht eingehandelt. Im Gegenteil. Selbst jene, die den FDP-Mann auf der Seite jener Drängler sahen, die dem Gericht gern ein schnelles Attest über die Verfassungsmäßigkeit ihrer politischen Beschlüsse und Handlungen abgeluchst hätten, sparten nicht mit massiven Zweifeln an der Urteilsfähigkeit des Politikers. So groß ist das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts in Staat und Volk, daß nicht einmal erwogen und gefragt wurde, ob der rundum erfahrene und beschlagene Graf nicht vielleicht bloß die Fortbildung der Verfassungsrichter an einer europäischen Richterakademie anregen wollte, sondern daß ihm sofort fehlendes Demokratieverständnis, Rechtsstaatsverrat, Verfassungsfeindlichkeit usw. zugeschrieben wurde, wobei es an Vergleichen mit seinem fehlsamen Onkel und sogar an Hinweisen auf das Ermächtigungsgesetz nicht mangelte – das Verfassungsgericht dagegen erschien den Internet-Kommentatoren als letztes Bollwerk gegen die zu allem entschlossenen Politiker. Es ging schließlich um einiges. ESM und Fiskalpakt sollten entweder durchgewinkt oder radikal abgewunken werden.

Ob die Verfassungsrichter die ihnen zugedachte Schelte bzw. das Preislied zur Kenntnis genommen haben, ist nicht bekannt. Ihre Verhandlungsführung unterschied sich in ihrer gelassenen Ruhe und dem souveränen Frage-Antwort-Spiel jedenfalls in nichts von den Auftritten, mit denen uns das Gericht in den letzten Jahren entzückt hat: Feierlich und erhaben schreiten die scharlachroten Roben vor ihr Publikum, das sich respektvoll erhoben hat.  Die Krone wird vom Kopf genommen (warum eigentlich? Vgl. England!), man sitzt ab, und der Führer verliest, was die Richter im Grundgesetz entdeckt haben. Dort ist allerdings zu den zentralen Fragen, die Volk und Regierung in letzter Zeit umgetrieben haben, so gut wie nichts zu lesen. Nichts zu den Überhangmandaten oder dem Asylbewerberleistungsgesetz, nichts zum Meldegesetz und nichts zum Europäischen Rettungsschirm – ein nicht verwunderlicher Sachverhalt, denn die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten von all dem nicht die mindeste Ahnung.




Man muss also schon sehr gut lesen können und über viel Phantasie und konstruktive Kraft verfügen, um die Lösungen für all diese komplexen Probleme in den wenigen und abstrakten Buchstaben des Grundgesetzes zu entdecken. Die Verfassungsrichter können das. Der Graf kann es nicht, denn sonst säße er, der doch wirken, gestalten, entscheiden will, nicht im Europaparlament, sondern in Karlsruhe, wo, wie die Internet-Kommentatoren sehr wohl gemerkt haben, die eigentliche Regierung sitzt und nicht in Berlin, wo sie der Graf vermutet. Weshalb er für Berlin mehr Macht fordert, die er auf größere Kompetenz stützen will, ohne zu sehen, daß Berlin sich seine Kompetenz aus Karlsruhe kontrollieren und bestätigen lassen muss, und daß der deutsche Bürger gerade dies in besonderem Maße goutiert.

Was man sehr schlicht damit erklären kann, daß der Deutsche, wie nicht zuletzt diese weltweit einzigartige und nie da gewesene Verfasstheit zeigt, der Politik nicht über den Weg traut, dem Recht aber sehr wohl.

Ob er damit auf Dauer gut beraten ist, steht dahin. Bis jetzt ist er damit im Großen und Ganzen gut gefahren. Aber das könnte sich natürlich schnell ändern. Vor allem, wenn sich die Richter ändern und eine Richtung einschlagen würden, die dem breiten Mainstream nicht akzeptabel erscheint. „Soldaten sind Mörder“- und Kruzifix-Urteil waren da deutliche Klippen. Der Köhlerglaube an DAS Recht, an „das Grundgesetz sagt“ und „das Grundgesetz will“ fällt schnell in sich zusammen, wenn alle oder die meisten sich diesem Glauben verweigern. Dann zeigt sich, daß die Legitimation der Urteiler keineswegs auf einem Konsens über die Werte, sondern auf einem Dissens über dieselben beruhte – verbunden mit der Hoffnung beim nächsten Rechtsgang auf der Gewinnerseite zu sein. Weswegen auch die Verlierer sich gern „mit Respekt“ geschlagen geben, den Verlust als „Wegweisung“ stilisieren und die legendäre Feststellung des abgekanzelten Kanzlers Adenauer („Das Kabinett war sich darin einig, daß das Urteil des Bundesverfassungsgerichts falsch ist“) nur noch in schalldichten Räumen vor sich hinmurmeln.

Die Regentschaft in Karlsruhe, an der selbst die nicht mehr zweifeln, die immer noch bestreiten, daß die Verfassungsrichter Rechts-Politiker sind und zwar deutlich bessere als die Partei-Politiker, war keineswegs ein konstitutioneller Grundgedanke. Wie sie sich aus bescheidenen, blassen und fast schüchternen Anfängen allmählich zum mächtigsten Staatsorgan entwickelt hat, bei dem der Gesetz“geber“ inzwischen vorsichtig und gewunden nachfragt, ob er mit seiner nächsten Gabe gefallen oder fallen wird, ist ein faszinierendes Stück juristischer Zeitgeschichte, das zu schildern sich lohnt.

Rolf Lamprecht (Ich gehe bis nach Karlsruhe. Eine Geschichte des Bundesverfassungsgerichts, DVA 2011, 350 S.) hat diese Aufgabe brillant gelöst. Konstruiert hat er den Plot über neun Kapitel entsprechend den 9 Präsidenten, die das Gericht bisher geführt haben bzw. (Voßkuhle) noch führen. Das war, auch wenn  man seiner These folgen würde, daß die Präsidenten das „Gesicht“ und die Verkörperung des Selbstverständnisses des Gerichts seien, nicht unproblematisch. Denn die solcherart entstehenden Perioden, stimmen kaum mit jenen überein, die etwa ein Historiker der inneren Geschichte der BRD entwerfen würde. Aber Lamprecht ist mit dieser Schwierigkeit und der weiteren, daß Höhepunkte, wie die Zulassung des dissenting vote (1970), wodurch die alte Ideologie vom wahren und einzig richtigen Rechtsspruch verabschiedet und das treffendere Dogma von der Vertretbarkeit der Richtermeinungen installiert wurde, und absolute Tiefpunkte, wie das skandalumwitterte KPD-Verbot (1956), wo sich die Hysterie des Kalten Krieges austobte, erst sehr viel später erkennbar werden, so daß allerlei Vorgriffe und Rückblicke nötig werden, glänzend fertig geworden.

Ausgehend von der nicht zu bezweifelnden Einsicht, daß der „Zeitgeist“ nicht an der Pforte des Gerichts anhält, bemüht sich der Verfasser diesen Geist anschaulich und – was die Wertungen betrifft – aus einer (mir) sympathischen linksliberalen und demokratiesensiblen Position zu beschreiben. So daß mit der Rechtsgeschichte, die mit größter Sachkunde und erheblichem pädagogischen Geschick kein für das Recht der BRD relevant gebliebenes Urteil übergeht, zugleich auch eine Geschichte der Bundesrepublik entstanden ist, die so noch nicht geschrieben wurde.

Und so kann man mit Spannung und Tempo den Weg verfolgen, auf dem das Gericht sich nach und nach der Politik erst tolerabel, dann respektabel, schließlich sogar erwünscht gemacht hat, bis es endlich die klassische Politik auf den wichtigsten Feldern unterworfen und in eine justizgeleitete Verwaltung verwandelt hatte.

Für Juristen, die aufgrund ihres biblischen Alters alle Präsidenten erlebt haben, eine kostbare Erinnerung, für alle Jüngeren eine wichtige Ergänzung und für alle Jurastudenten und sonstige Nichtjuristen eine wertvolle Belehrung.

Und für den Grafen Lambsdorff eine Aufklärung, auf daß er umgehend aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit finde.