Meine Assistentin Vera ist nicht zimperlich. Aber gelegentlich wird auch sie von irgerndeiner kleinen Widerwärtigkeit ins Bett geworfen. Dann schreibt sie gesellschaftskritische Noten und schickt sie mir, damit ich sie nicht allzusehr vermisse. Ausgerechnet zu Ostern muß ich statt mit ihr mit ihrem Text reden. Aber das Tagebuch profitiert.


To phone smart or not to phone smart

Es ist soweit. Die digitalen Medien sind im deutschen Alltag nicht nur angekommen, sondern nehmen zudem im sozialen Verhalten eine gesicherte Rolle ein. Das lässt sich bereits anhand bestimmter Merkmale aufzeigen. Im Folgenden dienen als solche Kategorien das Rudelverhalten und das Sozialmitleid.

Für ersteres sei ein Ausstellungsbesuch in der Neuen Nationalgalerie geschildert. Gerhard Richter wird gezeigt, und die Warteschlange ist lang. Man tummelt sich auf der oberen Etage; dort harren unter den Blicken der staunenden Besucher fünf Skulpturen und rund 140 Gemälde aus. Diese Beschreibung bedarf allerdings der Revision. Denn mindestens ein Drittel der anwesenden Augenpaare blickt nur mittelbar auf die Kunst – durch einen Touchscreen. Kein „Seestück“, keine „Lesende“, kein einziges Gemälde, das die davor stehenden Menschen schlicht und einfach betrachten. Permanent zückt einer sein smartes Phone, hält es eine Ellenbogenlänge entfernt von sich weg, blickt prüfend auf den Screen und drückt ab. Auf dem Screen wackelt das Gemälde, das vor der Nase des Phone-Users still an der Wand hängt. Tritt man ganz dicht heran, sieht man die Struktur der Farbpasten, die je nach Blickwinkel und Lichteinfall andere Schatten werfen. Lackschlieren und Ölschichten. Die wenigsten Phone-User zoomen durch den Screen an sie heran. Meist erfolgt ein einziger schneller Klick und das Gemälde ist dem Phone einverleibt.

Ich frage mich, was man damit will. Ob man überhaupt irgendetwas damit will. Oder ob man es einfach macht, nur weil man es kann. Sitzt man abends zuhause am Computer und lässt anhand mehr oder weniger stark verwackelter Bilder die Bilder nochmals Revue passieren? Viele Phone-User drücken sehr oft auf ihren Screen. Wenn sie sich tatsächlich all diese massenhaft gespeicherten Bilder nochmals anschauten, dann hätten sie einen Gemälde-Input von rund 140x3 (analog beim Wahrnehmen, digital 1 beim Aufnehmen und digital 2 beim Betrachten). Sieht man dabei überhaupt noch irgendetwas? Oder schlägt das Herz ein wenig schneller bei dem Gedanken an den neuen Besitz, den auf dem Phone abgespeicherten Bilderordner „Richter_Neue Nationalgalerie_Berlin“? Ist das Ganze nichts anderes als ein kulturell-kommunikativer Konsumrausch? Vielleicht schaut man sich die erworbenen Bilder nie wieder an, gleich dem zehnten trendy Shirt von H&M, das nie wieder angerührt im Kleiderschrank sein Dasein fristet. Oder drückt man auf den Screen, um anschließend live aus der Neuen Nationalgalerie zu twittern und via facebook, google+ et al. klar- und darzustellen: Ich war dabei! Es war toll. Es war schlecht. I like.  Ein kommunikativ-normativer Statusrausch? Oder am Ende einfach nichts, von alldem? Existiert eine Studie zu diesem Verhalten? Bereitet man sich damit vielleicht auf eine Umfrage an Museumsausgängen vor? Haben Sie via Phone fotografiert? Wie oft? Wieviel davon gleich wieder gelöscht? Was machen Sie mit den Bildern? Welches Gemälde fanden Sie am schönsten? Können Sie drei Gemälde bei ihren Titeln nennen? Ohne im Internet nachzuschauen?

Im Gegensatz zu dieser lemminghaften Szenerie lässt sich die zweite Situation als ruhig und einsam beschreiben. Nachts um Zwei Uhr stehe ich mit zwei Freunden an einer Straßenkreuzung in Berlin. Wir befinden uns abseits der einschlägigen Partymeilen. Einige gute Meter entfernt kommt uns ein Mann entgegen, ansonsten ist die Straße leer. Auf der Suche nach einer bestimmten Adresse haben wir uns verlaufen und beratschlagen nun im Kreise stehend: Weiter links oder rechts entlang? Wo war die Kinzigstraße? Der Mann, etwa gleichaltrig, ist inzwischen auf unserer Höhe. Er hat den beschwingten Gang eines Beschwipsten, schaut uns an, hört uns im Vorübergehen wohl zu, denn als er schon an uns vorbeigetrudelt ist, dreht er sich noch einmal um, ruft fröhlich: „Habt ihr keen Smartphone oder wat?“ und verschwindet lachend  hinter der nächsten Häuserecke. Wir sind baff. Er hat uns nicht wegen fehlender Statussymbole ausgelacht, sondern sich über unsere antiquiert anmutenden Orientierungsversuche amüsiert. Das fehlende Smartphone mitsamt fehlendem Internet sowie google maps als Grund maßlosen Erstaunens und Amüsements. Als Kategorie für die Beurteilung des Verhaltens wildfremder Menschen? Ja - siehe Gerhard Richter.  

                                                                     Vera Finger