Der Vater meiner Mutter war Holzschuhmacher, Waldarbeiter und sammelte Alteisen. Ich durfte oder mußte (die Frage wurde nicht erörtert und ich war stets begeistert) bei allen seinen Verrichtungen zusehen. Wie er aus klobigen Klötzen mit festen und weichen Schlägen nach und nach einen Clog herausholte, wie er mit der Axt einer dicken Fichte zu Leibe rückte, wie er zwischen rostigen Rohren, Platten und Drähten herumstapfend und stochernd prüfend ein Stück heraussuchte und einem Interessenten vorlegte.

Am liebsten ging ich mit in den Wald. Wir waren dann, anders als sonst, nie nur zu zweit. Eine Gruppe Erwachsener, die einem Auftrag folgte, und ein Kind. 4 bis 6 Männer und ich. Die Männer hatten Äxte quer über den Rücken gehängt und trugen Eisenkeile, Hämmer und mehrere große Sägen mit dicken Holzgriffen an den beiden Enden des Sägeblatts. Ich durfte eine Tasche tragen, die sich Brotbeutel nannte. In ihr befanden sich, neben diesem und jenem, vor allem zwei große Scheiben Brot für mich, in der Mitte halbiert und zusammengeklappt, um auf diese Weise sowohl den dünnen Aufstrich aus Leberwurst als auch die Käsescheiben zu schützen; für den Großvater ein Viertel Laib schwarzes Brot, ein großes Stück Speck und ein gläserner Flachmann – eine der Wölbung des männlichen Oberschenkels angepasste, flache Flasche, die, abhängig von den Ressourcen meiner Großmutter mit Pflaumen-, Himbeer- oder Kirschschnaps gefüllt worden war; und für uns beide eine Thermosflasche mit Pfefferminztee.

Holzarbeiter, Wilhelm Morgner 1911
Holzarbeiter, Wilhelm Morgner 1911

Wir wurden im Morgengrauen abgeholt. Manchmal von einem Lastkraftwagen, häufiger von einem Fuhrwerk, das sich langsam, krachend und mahlend vom Rande des Waldes in diesen hinein quälte.

Nach dem Halt an stets anderer Stelle gingen die Männer nach kurzer Orientierung in Zweiergruppen auf die vormarkierten Bäume zu und begannen nach kurzer Beratung die Arbeit. Mir wurde zusammen mit dem Brotbeutel eine sichere Stelle angewiesen, von der aus ich der Einkerbung der Bäume in der vorbedachten Fallrichtung zusah, dem rhythmischen Ratschen der Säge lauschte und aufgeregt auf das Rauschen, Krachen und Splittern wartete, mit dem ein großer Baum niederging, bevor er mit einem dumpf donnernden Schlag den Boden erschütterte.

Hatten die Gruppen ihren ersten Baum gefällt, den Stamm von Krone und Ästen befreit und ihn mit Stricken an den Wegrand gezogen, gab es eine Pause, in der mein Großvater das Brot und den Speck mit einem Klappmesser traktierte, mir aus dem Beutel mein Brot gab, Tee zuteilte und meinen Hundeblick auf den Flachmann, dem er einen schmatzenden Schluck entlockt hatte, mit einem dröhnenden „erst wenn Du groß bist“ quittierte. Worauf er seinen dicken, gelben, bis weit in die Backen ragenden und irgendwie furchterregenden Schnauzbart strich und wieder zu den Bäumen zurückkehrte.

Das wiederholte sich an diesem Tag noch zweimal und wenn wir uns am frühen Nachmittag auf den Heimweg machten, hatte Großvater zwei oder auch drei Bäume gefällt und bis zum Wegrand gebracht, ich hatte Heidelbeeren gesucht, aus Kiefernrinde ein kleines Boot geschnitzt, (vergeblich) nach vierblättrigen Kleeblättern Ausschau gehalten, den Ameisen zugesehen und auf dem Waldboden, wo er etwas moosig war, geschlafen.

Das war 1941 bis 1943 im Pfälzer Wald, im Nirgendwo zwischen Kaiserslautern und Bad Dürkheim, wo mein Bild vom Waldarbeiter entstand, ein Waldarbeiter, der so war wie mein Großvater. Er war stark wie die Bäume, die er mit Respekt und Liebe betrachtete, er kannte viele, wusste wie alt sie waren, entdeckte, wenn sie erkrankten, beurteilte ihre Aussichten, fällte sie ungern – ein wenig so, wie er die Karnickel tötete, weil wir essen wollten – trug seine Axt stolz und ernst zur Arbeit, bei der er sich in gerechter Gefahr sah, durchquerte den Wald nach ,,Himmelsrichtungen, verachtete Leute, die Wege brauchten, um sich zu orientieren. Der Wald ernährte ihn und deshalb achtete er auf jeden Zweig, knickte nichts, zertrat keinen Käfer und keine Pflanze und lauschte mehr als er sprach.

Das war zwischen 1941 und 1943. 1943, demnächst vor 70 Jahren hat sich der Großvater erhängt, weil er glaubte der Großmutter eine Last und den Nachbarn eine Gefahr zu werden und ich habe fast 70 Jahre keine Waldarbeiter mehr gesehen. Bis vor einigen Tagen in Berlin im Grunewald. Sie waren eine gewisse Überraschung und sie haben mir allerlei gezeigt über meinen Weg, den ich gegangen bin, über die Moderne und den Fortschritt, den wir erkämpft haben.

holzauktion1Die Überraschung begann mit einem Schild, das die Forstbehörde in mehreren Kopien am Eingang zum Grunewald aufgestellt hat. Schon daß der Wald dort als „Erholungswald“ bezeichnet wird, wäre für meinen Großvater eine völlig unverständliche Bezeichnung gewesen. Für ihn war der Wald „Wald“. Klar, daß man sich darin irgendwie auch erholen konnte – vom städtischen Lärm und Schmutz etwa. Aber in erster Linie war der Wald dazu da, daß man ihn nutze und zwar so ausgiebig wie möglich, um das Leben und Überleben zu sichern. Das ist heute offenbar ganz anders. Tatsächlich erklärt der unterzeichnende „Förster Constien“ dem sehr verehrten Publikum, daß „wirtschaftliche Gesichtspunkte […] eine untergeordnete Rolle“ spielen würden. Das könnte meinem Großvater gefallen haben. Man muß sich heutzutage offenbar keine Eingriffe mehr abringen, kann der Natur ihren Lauf lassen, muß sie nicht ständig zwingen etwas herzugeben, was sie nicht hergeben will.

Ruinierte WaldwegeDie Maßnahme, die dem verehrten Publikum angekündigt wird, heißt „Durchforstung“. Das klingt eigentlich nicht gut. „Durchregieren“ habe ich einmal gehört – es schien mir nichts Gutes zu annoncieren und wurde gottlob verhindert. Über "Durchchristung" hat Benjamin Lahusen soeben gehandelt - und nichts Gutes daran gefunden. Durchhalten, Durchfall, Durchschuss – nur unangenehme Assoziationen stellen sich ein. Aber das Ziel der „Durchforstung“ ist absolut beruhigend. „Ziel“, sagt der Förster, „ist in jedem Fall, den Wald in großer Vielfalt dauerhaft und gesund zu erhalten“.

Holzauktion im GrunewaldEin ganz moderner Förster ist der Förster Constien offenbar nicht. Hat vielleicht noch etwas von einem alten Förster, so einem wie jene waren, die meinen Großvater anstellten. Denn ein moderner Förster, ein political correct – Förster, effizient, promoviert und mit i-phone, hätte zweifellos statt „dauerhaft“ „nachhaltig“ geschrieben. Bleibt die Frage, warum der Text mit „Ich bitte um ihr Verständnis“ endet. Man kennt das von der Bundesbahn, die allerdings bei dem, in ihrem Betrieb meistgesprochenen Satz immer schon eine Schritt weiter ist und, das Verständnis usurpierend und unterstellend „wir danken für Ihr Verständnis“ säuselt, wovon sie sich auch durch noch so lauten Protest des Reisenden nicht abbringen lässt. Die Bahn setzt diesen Satz vorzüglich ein um sich für ihre unermüdlichen Verspätungen und das damit verbundene Ungemach zu entschuldigen – ein Gedanke der auch den Förster zu bewegen scheint, denn er weist darauf hin, daß es „vorübergehend […]zu Behinderungen“ kommen könne.

Nun denn – Baumfällen ist gefährlich. Das war auch zu Großvaters bedenkenloseren Zeiten nicht anders, denn es gab immer wieder schwere Unfälle und gelegentlich riss ein stolzer Baum auch seinen Töter listig mit in seinen Tod, indem er sich im Fallen in eine nicht vorhergesehene Richtung drehte. Es wird, so muß sich das verehrte Publikum denken, also mancherlei Absperrungen geben, wie sie der vorsichtigen Gegenwart wohl anstehen.

Aber es gibt keine Absperrungen. Es gibt einige „Waldarbeiter“. Fette deutsche Knopfdruckwerker, die mit sauberen Schuhen, die noch niemals ihre Sohlen auf einenWaldboden gedrückt haben, auf riesigen Maschinen sitzen, und mit diesen breitreifigen Ungeheuern, die den Boden zerwühlen, den Waldboden fußtief aufreißen, alle winterschlafenden Kerbtiere, Maden, Insekten, Tausende von Kleinstlebewesen in Sekunden vernichten, sich keuchend an die Bäume schieben, rechts und links alles zertrümmern, umstoßen, umwalzen, den Baum packen, wegsägen, hochschleudern, zerlegen, seine Äste abstreifen und ihn zum Fahrweg schleifen, wo sie ihn, maßgerecht zerstückelt mit vielen anderen zu riesigen Pyramiden auftürmen – mannshoch, doppelt mannshoch, dreifach mannshoch - bereit zur Abtransport und zur Verwertung. Ohne Gefühl, ohne Respekt, ohne Demut. Eine Großschlachterei, die das sanfte Wimmern der Pflanzen mit brüllender Techno-Musik aus den aufgepflanzten Recordern überbrüllt. Wunderschöne dicke Kiefern, herrlich kerngesunde Eichen, schön sortiert nach Größe und Qualität - je nach Endzweck . Sicher ein noch unbekannter ästhetischer. Denn die „wirtschaftlichen Gesichtspunkte“ sind ja sekundär.

Holzauktion im GrunewaldWie hatte doch Förster Constien so süffig formuliert: „Nach ganz unterschiedlichen Kriterien, wie zum Beispiel Baumart, Gesundheitszustand, Standort, Verkehrssicherung oder sozialer Stellung im Waldgefüge werden Bäume gefällt oder belassen“. Vielleicht haben die Waldarbeiter die Kriterien nicht so ganz verstanden. Und haben deshalb nichts „belassen“, was ihnen nicht gefiel oder im Wege war. „Verkehrssicherung“ ist ein schwieriger juristischer, „soziale Stellung“ ein komplexer soziologischer Begriff. Herr Costien ist wohl doch kein Förster alter Art – vielleicht ein postmoderner Dasonom (dasos griech. = Wald, zu -nom siehe „Öko-nom“)?

Jetzt ist klar, was mit „Behinderungen“ gemeint war. Die Waldwege sind zermalmt, tiefe Schneisen wurden in kurzen Abständen von den Wegen aus in die Bestände gehämmert, gelegentlich stehen vereinzelte Bäume trostlos in einem halbkahlen Feld.

Es gibt Fotos von den im 1. Weltkrieg durch Kanonaden verwüsteten Wäldern bei Ypern. An die denke ich, wenn ich die bizarren Aufhäufungen abgerissener Äste, ausgerissener Baumstümpfe, zerquetschter Kleinhölzer sehe. Aber Ypern hat sich in den letzten 100 Jahren gut erholt. Warum nicht auch der Grunewald?

Die Behinderungen sind psychisch, nicht physisch. Wer mag schon den nach verantwortungsvollen „Kriterien“ sorgsam zerfetzten und friedhöflich angerichteten Wald durchstreifen? Der Erholungswald ist ein Wald, von dem man sich erholen muß. Das kann man als moderner Dasonom schon als „Behinderung“ klassifizieren. Schön, daß sie „vorübergehend“ ist und mit Ökonomisierung nichts zu tun hat. Der Fortschritt enthält eben immer auch einen Keim des Tröstlichen.