Freitagmorgen, Vortrag in der juristischen Fakultät der Humboldt Universität zu Berlin. Dr. Ingo Venzke , LL.M. (London), zurzeit Amsterdam  und auch sonst weitgereist, stellt seine Dissertation vor. Sie ist natürlich in Englisch verfasst. Muß so sein heute, wenn man gelesen werden will. Und wer glaubt, etwas zu sagen zu haben, der will auch gelesen werden. Thema des Vortrags: "Über Wörter und Taten: Wie die Praxis der Interpretation das Völkerrecht schöpft". Der Titel verspricht nicht viel. Schließlich wird alles Recht, das das Buch verlässt, durch die Praxis der Interpretation  geschöpft. Warum sollte das beim Völkerrecht anders sein?

Gleichwohl, da es hier um das wie und nicht um das daß zu gehen scheint und ich bei rechtstheoretischen Reflexionen meistens etwas lerne, sollte die Sache zwei Stunden wert sein. Außerdem kenne ich mich im Völkerrecht nicht aus.  Also: wünschenswerte Lernsituation. Eigentlich handelt es sich um das Seminar des Kollegen Georg Nolte. Der ist aber von seinen Lasten befreit und wird durch PD Jürgen Bast vertreten, der seinerseits seinen Freund Ingo eingeladen hat, was wiederum dem Kollegen Nolte erlaubt, sich als Gast einzufinden. Der Vorstellende (Bast) freut sich, daß viele anwesend sind. Freut sich auch, daß Venzke anwesend ist. Venzke freut sich auch, daß er anwesend ist und daß viele anwesend sind. Die Vielen sitzen um einen großen Hufeisentisch, es sind vorwiegend die Alten und die Wichtigen und natürlich die Schwerhörigen und die Profilierungsbedürftigen. Im Hintergrund: die große schweigende Masse. Alles in allem: etwa 40. Ein gutes Publikum.  Der Redner beginnt ungeschickt. Stellt eine rhetorische Frage („Wo ist das Völkerrecht?“), die aufgrund einer Pause nach der Frage nicht sofort als solche zu erkennen ist. Sie wirkt ein wenig wie die Kasperle-Frage „seid ihr alle da?“ – bloß daß das Publikum nicht weiß, was es brüllen soll. „Jaaa!“ ging nicht.  „In der Praxis der Interpretatiooon!“ konnte man sich nach dem Titel denken und wäre richtig gewesen. Hätte aber geübt werden müssen. Wer schon beim ersten Schritt stolpert, kommt rednerisch schwer in die Gänge. Dr. Venzke macht keine Ausnahme. Der Vortrag ist nicht ausgearbeitet, müsste also im lässigen Ton der Vorlesung gehalten werden. Darunter leidet dann meist die Präzision, die nur Stümper durch teilweise Rezitation aus ihrem Text zu bannen versuchen. Ausnahmen bestätigen die Regel. Dr. Venzke ist keine Ausnahme. Ich höre, daß es um eine „Blickverlagerung“ weg von der Norm hin zur Praxis der Gerichte geht. Und um eine Besinnung auf die Interpretation, die „kreativ“ ist und „den nackten Normtext überlagert“. Der semantische Kampf zwischen den Akteuren taucht auf. Ich rätsele, wie ich die Absichten des Völker-Redners einzuordnen habe. Will er mitteilen, daß rund um „Wortlaut und Bedeutung“ theoretische Probleme bestehen? Kaum. Wenn auch sprachwissenschaftlich nicht sehr versiert, zeugen doch die Signalwörter aus dem Hintergrund von Wittgenstein und Friedrich Müller, und zeigen, daß der linguistic turn auch im Völkerrecht angekommen ist. Und die in Zivilistik und öffentlichem Recht seit längerem erörterte Krise der Norm auch. Will er das mitteilen? Das wäre brav, aber wohl nur für Völkerrechtler noch interessant. Ich warte, ob ich das Problem verstehe. Allmählich habe ich den Eindruck, daß ich verstehe. Es geht um die Legitimität des Normativen, um Bindungskraft der Tradition, um die semantische Autonomie der Akteure und die Akzeptanz der Rechtunterworfenen. Also doch ziemlich fundamentale rechtstheoretische Fragen. Daß sie im Völkerrecht von anderer Art sind als in den anderen Rechtsfächern, scheint mir wenig plausibel. Vielleicht werden sie dort (jetzt) deutlicher sichtbar. Kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls fehlt den Ausführungen des Redners weitgehend eine tiefere Aufklärung aus einem (vermutlich nicht stattfindenden) intradisziplinären Dialog: Rechtsgeschichte und Rechtstheorie. Lex ist schließlich nicht zufällig bei dem Römern Ausdruck sowohl für Vertrag als auch für Gesetz.  Und Lex altert. Die Zeit, der gnadenlose Sinn-Konsument, referiert immer neue Möglichkeiten, mit denen die alten Zeichen gefüllt werden KÖNNEN. Und sofort treten Interessenten auf und geben neue Deutungen aus. Jetzt tritt die Normativität auf den Plan und der Beobachter fragt: Dürfen die das? Und wenn sich Konkurrenten einstellen, die behaupten, daß sie auch dürfen, aber eine andere Bedeutungsfüllung für richtig halten – wer hat dann Recht und wer entscheidet, wer Recht hat ? Staatsorganisation und Politik haben das in der Hand. Justinian, der große Legislator, hat die Legitimität an die Tradition geknüpft und seine Neuerungen kraft kaiserlicher Negation als „altes Recht“ ausgegeben. Rechtsentwicklung als Leugnung derselben wäre die kaiserliche Antwort auf die Frage des Dr. Venzke gewesen, wie Rechtsentwicklung möglich sei, wenn Recht an die Tradition gebunden bleibe. Der BGH und andere machen es immer noch so. Viel „ständige Rechtsprechung“ enthüllt sich bei Prüfung als Erfindung im Zeitpunkt ihrer Verkündung. Natürlich ist die Haltung des Augur keine gute Empfehlung für einen modernen Völkerrechtler. Wird die LEX durch den Konsens der Partner und nicht durch Imperium oder Akzeptanz begründet, dann drängen sich neue Fragen auf. Wie lange bleibt dieser Konsens unangeknabbert durch den Sinnfresser ZEIT verbindlich? Über die Generation der Gründer hinaus? Ewig? Kann das denn sein, fragt Dr. Ingo Venzke, der „Staatenkonsens als alleiniger normativer Fluchtpunkt“? Warum eigentlich nicht? Das pactum ist das pactum ist das pactum. Aber es wird doch interpretiert! Und Interpretation ist kreativ. Die souveränen Paktierenden sehen die alten Zeichen in neuem Licht. Wenn die Partner sich das bieten lassen, gibt es kein Problem. Was aber, wenn sie widersprechen? Kann man sie an den alten Zuschreibungen=Bedeutungen festhalten? Dr. Venzke ist verzweifelt relativistisch. Kann zu Recht nicht glauben, dass die Bedeutung in den Worten steckt. Und dort einfach nach der Methode „Knüppel aus dem Sack“ wieder hervorgeholt werden kann. Dann ist allerdings auch der einstige „Akt konsensueller Unterwerfung“ nicht mehr so richtig tragfähig, und auch die Rechtfertigung mit der „späteren Übung“ – Staatspraxis als Argument für Legitimation – scheint ihm „etwas wackelig“. Was aber dann? Man braucht Gerichte. Wenn die dann anders interpretieren als sich die Paktierenden die Sache vorstellten – na dann hat eben die Autorität entschieden. Und wenn die Gerichte fehlen? Wie fängt man in diesem Fall die Streitenden ein? Gott ist weit, und eine Philosophie der Zeit hat Herr Venzke nicht zur Hand.  Kollege Nolte greift ein. Er greift mehrfach ein und warnt. Es macht Freude, ihm bei der Verfertigung der Gedanken während des Redens zu lauschen. Er weiß auch, was Herr Venzke weiß, daß nämlich, die essentialistische Deutung des Wortlauts „erkenntnistheoretisch unhaltbar“ ist. Aber was soll’s? Lässt man erst das Ringen um die richtige Definition zu, ist der Friede schon verloren. Mit vielen Beispielen stellt er überzeugend die Stoppwirkung des Platonismus vor. Ist wirklich nicht einzusehen, sage ich mir, daß die richtige (!) Politik vor einer Erkenntnis(theorie!)  den Schwanz einziehen muß. So kommt es doch noch zu einer farbigen Diskussion. Der Vortragende ist etwas resigniert. Ich unangemessen fröhlich. Ein guter Vormittag.