Habe mir ein Buch und einen Film zur Vorbereitung auf das Neue Jahr geleistet:

Das Buch: Grundsätze von Verfertigung der Relationen aus Gerichtsacten, mit nötigen Mustern. Zum Gebrauch der Vorlesungen – von Justus Claproth (1728-1805). Sicher nur für Menschen mit Interesse am Rechtsunterricht. Also für relativ wenige. Für die aber durchaus kurzweilig. Mit einer Vorrede von dem Verhältniß der Theorie und der Ausübung der Rechtsgelehrsamkeit.

Hätte man früher schon wegen der umständlichen und langwierigen Beschaffbarkeit kaum in die Hand genommen. Heutzutage klickt man ein bißchen und wird bei Google. books fündig.

Theorie sind dem Verfasser komplexe Fähigkeiten und Kenntnisse. Theoretiker ist, wer den wahren Sinn der Gesetze bestimmen kann, Kenntnis von den Rechtsinstituten besitzt und genau weiß, welche Folgen die Rechtsgeschäfte „nach sich ziehen“.  Praktiker ist, wer diese Fertigkeiten in die Tat umsetzt. Also Professor und Richter! „Die Gerichtsbank ist also bey der Rechtsgelehrsamkeit der Zweck, wonach alles eingerichtet werden muß“ .

Sein Buch ist also Teil der Rechtsgelehrsamkeit und zwar einer, "welche eine geschärfte Beurtheilungskraft und eine weitläufige Erfahrung erfordert". Heute ist diese Vorstellung von der Universität verschwunden. Relationstechnik, wenn sie überhaupt noch gelehrt wird, wurde an die Praxis delegiert und führt, wie die gelegentlichen Auseinandersetzungen in den Ausbildungszeitschriften vermuten lassen, nur noch in der kurzen Zivilstation ein kümmerliches Dasein.

Ich hatte seinerzeit (1959-1963) Sattelmacher-Daubenspeck, der in den frühen 60er Jahren noch in aller (Rechtsreferendare) Munde war. Das Buch existiert immer noch und heißt zurzeit Sattelmacher/Sirp/Schuschke. 34. Auflage, 2008, 388 Seiten,  30 Euro. „Seit Generationen ein Standardwerk der Referendarausbildung“ prunkt der Verlag (München:Vahlen).

Die 1. Auflage erschien 1884, also vor 128 Jahren, womit man schon auf ein halbes Dutzend von Rechtsreferendargenerationen kommen kann. Sie wurde von Hermann Daubenspeck (1831 bis 1915) geschrieben. Der war, wie mancher in der langen Reihe seiner späteren Bearbeiter, Oberlandesgerichtsrat, und begründet die Notwendigkeit und den Nutzen seines Werkes  mit den inzwischen allerdings nicht verstummten „Klagen über mangelhafte Ausbildung der jungen Juristen“.  Sein Buch hieß Referat, Votum, Urteil -  eine Titelei, die erst mit der 13. Auflage 1930, als die lateinischen Begriffe grundsätzlich getilgt wurden, zu Bericht, Gutachten, Urteil mutierte. Daubenspeck wußte noch, daß er in der Tradition Claproths arbeitete. Inzwischen war freilich Erhebliches geschehen. Am 30. Januar 1877, ziemlich genau 99 Jahre nach der 3. und letzten Auflage des Claproth (1778), war die Reichscivilprozeßordnung in Kraft getreten und hatte die Relation an einem Punkte wesentlich verändert.  Für Claproth besteht eine Relation „ordentlicher Weise aus vier Stücken“:

1.     Aus einer vollständigen Geschichtserzählung

2.     Dem Auszug aus den Akten  (gern Extract genannt)

3.     Aus dem Gutachten des Referenten

4.     Und aus dem Urtheile

Da die neue Prozessordnung das mündliche Verfahren eingeführt hat, so Daubenspeck, ist die Notwendigkeit, den Fall auch noch durch „meistens weitschichtige Aktenauszüge“ zu konstituieren,  entfallen. Abteilung 2 konnte also gestrichen werden. Vor dem Gutachten (Votum) steht jetzt nur noch das Referat, d.h. die vollständige Geschichtserzählung, die ab 1930 bis heute den Namen "Bericht" trägt.

Ansonsten hat sich wenig verändert, wenn man einmal davon absieht, daß Claproth noch weiß und durch häufiges Zitieren beweist, daß er bei seinen Rezepten den Regeln der Rhetorik folgt, wie sie das Abendland von Marcus Fabius Quintilian (35-100 n.Chr. ) gelernt hat.  Selbst die Streitfragen, die schon im ersten Jahrhundert relevant und (schon damals) unlösbar waren, wie etwa die Frage, ob man eine Geschichte besser chronologisch (so der Auctor ad Herennium) oder (attraktiver, so Quintilian) nach Relevanzgesichtspunkten erzählen solle, werden von Claproth sorgfältig referiert und (in diesem Falle) zögerlich gegen Quintilian entschieden (§15):  Quintilian 4.2.83 hat wohl Unrecht, wenn er sagt: Namque ne eis quidem accedo, qui semper eo putant ordine, quo quid actum sit, esse narrandum, sed eo malo narrare, quo expedit.

Bei Hermann Daubenspeck ist Quintilian aus Text und Apparat verschwunden, was vermutlich der im 19. Jahrhundert auf breiter Front stattfindenden Ächtung der Rhetorik und der damit einhergehenden, kollektiven Verdrängung der Erinnerung an den römischen Redner geschuldet ist. Daubenspeck selbst dürfte allerdings – ganz im Gegensatz zu den heutigen Bearbeitern – durchaus noch gewußt haben, wer Quintilian war und was er ihm verdankte.

Daß der heutige Schuschke/Daubenspeck (so hieß das Buch in der 32. Auflage von 1994) – der Rechtshistoriker mag sich allerlei reimen bei dem Umstand, daß 2008 die schon verloren geglaubten Bearbeiter Sattelmacher und Sirp wieder erschienen sind,  und der OLG-rat Schuschke ans Ende einer Reihe ohne Daubenspeck gerückt ist – mit 388 Seiten auskommt, während Claproth deren 800 benötigte, hat seinen Grund allein in dem Umstand, daß Claproth zehn  Musterrelationen angehängt hat, die allein 482 Seiten verbrauchen, so daß die Rezeptur mit 318 Seiten sich von der heutigen Form nur unwesentlich unterscheidet.

Diese Muster sind eine hervorragende Quelle für die sächsische Zivil-, Konkurs- und Strafrechtspraxis in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Denn mögen die abgehandelten Fälle auch erfunden sein, so sind sie eben exemplarisch und plausibel für die Zeitgenossen erfunden, und liefern mit ihren detaillierten Hinweisen  -  etwa auf den Sachwert entwendeter oder dem Arrest verfallener Gegenstände, auf die Erwägungen zur Glaubwürdigkeit von Zeugen oder die Urteilsfolgen – ein lebenspralles Bild sozialer Realität.

Lesen ist sicher mühsam - aber nachschlagen lohnt sich.

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Der Film: Mr. Smith geht nach Washington. Angeblich ein Klassiker. Vielmals ausgezeichnet. Jedenfalls das einzige, in seiner Art großartige, filmische Dokument (Frank Capra!) für eine Marathonrede – und deshalb interessant.

Nicht ohne Begleitung anzusehen, da schwer erträgliches Hollywoodprodukt aus dem Jahre 1939. Man muß sich wechselseitig zum Weitersehen ermuntern. Schwülstiger Patriotismus: wunderschönes Amerika und seine Pfadfinder-Jugend. Liberty-Glocken, helle und dunkle Wolken über dem Capitol, Lincoln blickt vielfach, streng und gottähnlich von oben. Pursuit of happiness in Stein und auf Papier - für alle. Expressionistische Überblendungen. Jede Menge Leni Riefenstahl- Assoziationen.

James Stewart als  naiv-dümmlich idealistischer Jungsenator.  Reichlich unrealistisch. Er stolpert unfreiwillig in eine völlig korrupte Politiker- und Medienwelt, die sich zynisch und unter ständigem Vorhalt von Ehre, Freiheit, Vaterland selbst bedient. Das kommt dem Betrachter endlich etwas aktueller vor.  Wer die Heuchler der Gegenwart angewidert vom Bildschirm wischt, könnte sich durchaus einen Filibuster wie Smith wünschen. Einen Ermüdungsredner, wie es ihn schon im römischen Senat gegeben haben soll.  Der, ohne sich zu setzen, tagelang, ohne Unterbrechung und bis zum tatsächlichen Umfallen über die vorgestellten und erwünschten Werte seiner Gesellschaft reden kann. Wobei die Volksvertreter geduldig oder ungeduldig zuhören müssen. Unsere Verfassung kennt dies nicht: Nach Worterteilung so lange reden dürfen bis alle schlafen oder rausgehen müssen. Brauchen wir allerdings auch nicht. Schlaf oder Fluchtwunsch stellt sich hier in der Regel bereits bei Worterteilung ein. Abgeordnete, die man als Redner bezeichnen möchte, wurden schon lange nicht mehr gesichtet.  Da es sie aber schon gab, fehlt es jetzt wohl weniger an den Fähigkeiten als an der Leidenschaft.

Vollends märchenhaft dann der Schluss. Der zusammenbrechende Redner löst im Bösewicht die Katharsis aus. Deutliche Zeichen des Irrsinns im Gesicht, rennt der durch den Senatssaal und brüllt: Nicht ER ist wertlos, sondern ICH! Worauf dann Jubel und allerlei amerikanisch Hymnisches ausbrechen kann.

Wir haben an solchen Stellen das Dementi und das Salamigeständnis.