Innenminister de Mazière

Nicht einmal ein Fan könnte sagen, dass Innenminister de Maizière in letzter Zeit mit besonders geglückten Formulierungen in der Öffentlichkeit aufgefallen sei. Unvergessen etwa, als er sich im November 2015 nach dem abgesagten Fußball-Länderspiel in Hannover nicht zur konkreten Bedrohungslage äußern wollte – mit der denkwürdigen Begründung: "Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern." Weniger humorvoll, aber auch nicht wirklich gut gegriffen war seine Forderung an „alle, die hier leben wollen“: „Jeder sollte wissen, was in Auschwitz passiert ist.

Über Prioritäten mag man streiten. Aber darüber, dass er diese Forderung nicht nur an die Flüchtlinge, sondern auch an den Pegida-Ableger Thügida gerichtet hat, der jüngst zum Gedenken an Hitlers Geburtstag (20. April) mit Genehmigung des Verwaltungsgerichts Gera einen Fackelmarsch durch Jena veranstaltet hat, ist nichts bekannt. Vielleicht wollten die Teilnehmer mit den Rufen „Juden raus“ ja auch nur demonstrieren, dass sie wussten, was in Auschwitz passiert ist.

Der 20. April 2016 war für de Maizière aber aus ganz anderen Gründen ein Ärgernis: An diesem Tag hatte bekanntlich das Bundesverfassungsgericht das seit 2009 geltende BKA-Gesetz für teilweise verfassungswidrig erklärt. Die Befugnisse des Bundeskriminalamtes zur heimlichen Vorfeld-Überwachung von Wohnungen, Computern („Bundestrojaner“) und Telefongesprächen gingen der Mehrheit der Verfassungsrichter in einigen Bereichen zu weit. Für erforderlich wurde deshalb eine Anpassung des BKA-Gesetzes unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bis Ende 2018 erklärt.

Ob dieser richterlichen Kompetenzanmaßung schwoll unserem Obertrojaner der Kamm. Schon am Tag der Urteilsverkündung machte er seinem Ärger über die verfassungsgerichtliche Einmischung mit der etwas überraschenden Bemerkung Luft, dass es sich bei dem Verdikt aus Karlsruhe wohl eher um einen richterlichen Fehlgriff handle: Das sind Bedenken, die ich nicht teile und die den Kampf gegen den internationalen Terrorismus nicht erleichtern." Das ist vielleicht sogar zutreffend. Doch wurde freilich übersehen, dass es nicht die Aufgabe der Verfassungsjustiz ist, den Innenminister im Kampf gegen den internationalen Terrorismus zu unterstützen, sondern die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger gegen Übergriffe der öffentlichen Gewalt zu schützen. Und wenn das Gericht einen Übergriff bejaht und Nachbesserung des Gesetzes verlangt, ist es ziemlich egal, ob der Minister die „Bedenken“ teilt oder vor Zorn in sein Kopfkissen beißt.

Das Kopfkissen hat aber offensichtlich nicht gereicht. Heute, zwei Tage nach dem Urteil, hat de Maizière in einem SPIEGEL-Interview noch einmal nachgelegt. Offensichtlich wollte er in einer Zeit, in der die Innenminister Europas auch in den entlegensten Ecken des Kontinents Kante zeigen dürfen, zumindest einmal aussprechen, woran er leidet. Und wenn er schon nicht seiner Chefin durch Kritik ihrer Flüchtlingspolitik in den Rücken fallen darf, so will er wenigstens andeuten, dass man es mit dem Rechtsstaat auch übertreiben kann. So oder so ähnlich muss seine Befindlichkeit beschaffen gewesen sein, als er heute gegenüber dem Interviewer bekundete: "Ich finde, dass ein nationaler Grundrechtsschutz, so wichtig er ist, auch im Angesicht der Internationalisierung von Gefahren betrachtet werden muss."

Starke Worte, gelassen ausgesprochen. Aber was sollen sie bedeuten? Die Formulierung „so wichtig er ist“ deutet an, dass es dem nationalen Grundrechtsschutz an den Kragen gehen soll. Denn das regelt die Rhetorik: erst kommt die Verbeugung, dann der Tritt. Und der lässt in der Tat nicht auf sich warten. Der Honorarprofessor für Staatsrecht an der Technischen Universität Dresden befindet den Grundrechtsschutz zwar für „wichtig“, wichtiger aber noch die Befugnis des Gesetzgebers, ihn bei Bedarf auszuhebeln.

War da nicht noch das Verfassungsgericht? Die Bastion gegen staatliche Übergriffe in geschützte Bürgerrechte? Wenige Tage nachdem die deutsche Kanzlerin – wenn auch nicht ganz zweckfrei – ein frommes Bekenntnis zur nicht verhandelbaren Justizkompetenz selbst im Falle unliebsamster Zusammenhänge abgegeben hat, erlaubt sich ihr Innenminister mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht folgendes Statement: Es ist „nicht Aufgabe des Gerichts, ständig dem Gesetzgeber in Sachen Sicherheit in den Arm zu fallen".

Da kann man nur sagen: hier irrt der Mann. Es ist die genuine, wichtige, absolut unverzichtbare Aufgabe des Gerichts, dem Gesetzgeber in den Arm zu fallen, in Sachen Sicherheit oder anderswo. Jedenfalls immer dann, wenn der Gesetzgeber verfassungswidrig die Rechte der Bürger missachtet.

Von dem eingangs zitierten Hannover-Statement über die Vermeidung von Bevölkerungsverunsicherung hört man, dass de Maizière seine Äußerung später nicht zu seinen besten zählte. Er hätte sie, fand er, wohl besser nicht getan. Es bleibt zu hoffen, daß er zu dieser Erkenntnis auch bezüglich seiner neuesten Expektorationen kommt.

Regina Ogorek