Rostock im Oktober. Sonnig und kühl. Am Bahnhof bietet Rechtsanwalt Kerls auf großen Plakaten seine Dienste im Arbeitsrecht an. Früher galt so etwas als standeswidrig. Aber in Marketing-Zeiten ist die Sensibilität für Stil geschwunden. Dafür sieht man den Anwalt im Ganzkörperformat. Ob das Vertrauen schafft?

Rostock feiert den 20. Jahrestag der Wiedereröffnung der juristischen Fakultät (1991-2011). Die Jubiläumsveranstaltung (mit Festvortrag) war am 21.Oktober. Davon habe ich nichts mitbekommen. Jetzt, am 22. 10. gibt es eine Tagung: "Die Zukunft der Juristenausbildung". Gutes Konzept. Ein Fest mit Rückblick; eine Tagung als Vorschau. Zu dieser bin ich eingeladen. Die Veranstaltung beginnt um 10.30 Uhr. Mit Begrüßung. Sie wird - erwartungsgemäß - unsäglich. Die Grußwortkultur, die bei entsprechender Kürze und gezielter, kluger, politischer Botschaft durchaus ihren Sinn hatte, ist völlig verkommen. Der Rektor beginnt in hohem Ton:"Magnifizenzen, Spektabilitäten, Eminenzen" etc. Daß er die Form beibehalten müßte, weiß er nicht. Könnte es wohl auch nicht. Jedenfalls sinkt er rasch auf Stammtischniveau. Erzählt einiges über die Welt und vor allem über sich selbst. Die Tonlage rutscht ins Bramabarsierende. Das akademische Fach (Medizin) des Rektors ist anspruchsvoll. Gefäßchirurgie zumal. Aber er hat die vielen Prüfungen glänzend bestanden. Die Juristen lauschen ergriffen. Die ersten Nach-dem-Frühstück-Schläfer lassen die Köpfe sinken. 15 Minuten können die Ewigkeit zitieren. Überlegungen, das Podium räumen zu lassen, fallen in sich zusammen. Der Redner hat freiwillig aufgegeben.

Aufkeimende Hoffnung auf schnellen Beginn erlischt. Das nächste Grußwort erscheint. Ein fahles, dünnlippiges Männchen stellt sich als Präsident des Jusitzprüfungsamts vor und erzählt begrüßungshalber von seiner schweren Aufgabe. Die Studenten tun einem leid - schon bevor das erste Wort das Gehege der Zähne verließ. In Rostock gibt es einen Bachelor-Studiengang. Gut überlegt. Universitätsexamen, kein Staatsexamen. Die Absolventen also ohne "Befähigung zum Richteramt". Die gibt es nur gegen ein Staatsexamen. Es allein qualifiziert zum Volljuristen oder zur Volljuristin. Der Mann vom staatlichen JPA ist also unzuständig. Auch mag er den Studiengang der Uni nicht. Spricht verklemmt von den "Kernjuristen", die er "betreut" und den anderen, die er (selbstverständlich wohlwollend) "begleitet".

Die schwere Last des JPA, die den "Begleiter" dünn und bleich gedrückt hat, dehnt sich. 11.00 Uhr ist längst vorbei als nach mattem Beifall endlich der saftige Dekan aufs Podium spurtet. Er hat schon einen anstrengenden Festtag hinter sich, aber noch ist ihm nichts anzumerken.Für ihn beginnen die Wichtigkeiten erst jetzt: Seine Fakultät hatte das Totenhemdchen an. Der Bachelorstudiengang ist der Versuch es wieder abzustreifen. Er muß also ein Erfolg werden. Schon Viele haben ihre Not in eine wegweisende Tugend verwandelt. Warum also nicht Rostock?

Uwe Wesel wird kurz begrüßt. Dem anschließenden Podium, auf das sich Rostocker Innovationshoffnungen richten, wird die strikte Unterscheidung zwischen Studieninhalten (Podium1) und Studienstruktur (Podium2) ans Herz gelegt. Dann kommt Uwe Wesel.

Der vom Revoluzzer zum Grandseigneur der Rechtshistoriker mutierte Gelehrte erzählt die Geschichte der Juristenausbildung. Vom Alten Fritz, der die Zweiteilung und das Staatsexamen erfand, bis zu Friedrich II., also dem gegenwärtigen, unveränderten Zustand. Einzige einschneidende, aber naturgemäß rasch revidierte Reform brachte der Faschismus (und dann: "die Zone"). Lehrreich, amüsant, ironisch. Für den Aufmerksamen hier und da beklemmend. 45 gute Minuten. Heiter gehen die Tagenden zum Mittagessen. Der deprimierende Beginn ist vergessen. Podium 1 startet mit angemessener Verspätung.

Die Podiasten (Hartmut Kilger, Elisabeth Kreth, Mattias Kumm, Dieter Simon) sind vollzählig erschienen. Unter der milden Führung von Wilfried Erbguth sollen sie sich auf den Studieninhalt konzentrieren. Was fast gelingt, obwohl die analytische Trennung nicht wirklich trägt. Viel Neues haben sie nicht zu sagen. Die Grundlagen sind wichtig, obwohl nur wenig Studierende sie wichtig nehmen. Man müßte sie also in die Köpfe zwingen. Irgendwie (Struktur!!). Ethik tut not. Na klar. Ökonomie aber auch. Gewiß! Politik etwa nicht? Doch, doch - aber Psychologie darf nicht vergessen werden usw. Spätestens seit den 70er Jahren ist jeder Gedanke in der 150jährigen Geschichte der juristischen Studienreform schon einmal geäußert worden.

Als das Podium zum Publikum hin geöffnet wird, bricht die Trennung von Inhalt und Fortm endgültig zusammen: die einphasige Juristenausbildung, das Staatsexamen, der Probeschuß, Bologna, Bologna, Bologna...Es wird weit über die Zeit debattiert. Podium 2 muß warten. Als es starten kann, fehlen zwei (Dauner-Lieb aus Köln und Henning Radtke aus Hannover). "Terminkollision" - gängiger Ausdruck für fehlende Lust, eingegangene Verpflichtungen zu bedienen. Zwei Ersatzmänner springen ein.

Der Beginn ist zäh. Ein Funktionär der HRK rechtfertigt Bologna. Am Beispiel der Medizin. Er ist sehr versiert. Die Schlagworte prasseln federnd von seinen Lippen. Mobilität, Kompetenzsteigerung, Autonomisierung, blablabla. Ich schlafe ein. Verschlafe Christensen, den Philosophen auf dem Repetitorenthron. Man sagt, er habe ein flammendes und glänzendes Plädoyer für die Fall-Lösung und ihre Kunst gehalten. Was bei ihm natürlich heißt, daß der Fall den Zugang zur Welt und ihrer Wissenschaft öffnet. Daß von Fall zu Fall Philosophie, Psychologie, Ökonomie, Logik, Politik, Mathematik etc. in die Bearbeitung eindringen kann, soll, muß. Das einzig richtige Konzept also, das in Podium 1 gehört hätte. Die Lehrer für solchen Anspruch müßten allerdings noch gefunden werden. Daß er ("ausgerechnet"!) von einem Repetitor formuliert wird, fällt nicht auf.

Benjamin Lahusen erzählt eine schöne Geschichte mit ungewisser Botschaft. Klar ist jedenfalls das Plädoyer für ein Studium der Sache um der Sache willen - ohne Rücksicht auf Zertifikate, seien es Diplome, Master, Staatsexamen oder was auch immer. Mein Gymnasialdirektor pries in den 50er jahren diese Haltung. Manche Ideale sind eben unverwüstlich.

Mit Joachim Lege kommt Zoff in die Landschaft. Der Greifswalder plädiert für das Staatsexamen ("Stresstest") und macht sich auch sonst als Apologet des Vergangenen und Bestehenden unbeliebt. Jetzt sehen viele ihre Stunde kommen. Reihenweise Bekenntnisse über Examenserlebnisse, Ausbildungsleid, immer schon Übersehenes, endlich zu Realisierendes. Ein Volk von Prüflingen und Geprüften jammert. Der Saal leert sich ein wenig, aber der Moderator (Wolfgamg März) bleibt frisch und nimmt weiterhin die Beichten ab ("nur noch mit Pillen"). Abendessenszeit naht. Der Moderator gibt nicht nach. Jeder darf sagen, was er auf dem Herzen hat.

Endlich kann der Dekan ein Resumee ziehen. Der Austausch sei fruchtbar gewesen: richtig! Die Beteiligung engagiert: richtig! Einiges sei  unerwähnt geblieben: richtig - z.B. der Umstand, daß die anwesenden Professoren so taten, als würden sie die Juristen erziehen, obwohl 85% der Juristenausbildung von den Repetitoren erbracht wird (der einzige Repetitor im Saal schwieg vornehm). Man sei zufrieden: konnte man sein - das Staatsexamen ward gründlich lädiert und die Überantwortung desselben an die Professorenschaft schien den Befürwortern dieser Lösung angesichts des hohen Ethos deutscher Professoren, ihrer fachlichen Höhe und sachlichen Konformität völlig unproblematisch. Man werde weitermachen: gut so!

Einige gingen zum Abendessen, die meisten nach Hause.

[ds]