Auf dem bürgerlichen Auge blind? Das Berliner Landgericht hat soeben vier jugendliche Schläger, die einen 30-jährigen Handwerker auf einem Berliner U-Bahnhof in ein wochenlanges Koma geprügelt haben, wegen versuchten Mordes aus niederen Beweggründen zu Haftstrafen von vier bis sechs Jahren verurteilt. Man möchte das mit grimmiger Zufriedenheit zur Kenntnis nehmen. Vier bis sechs Jahre: das ist nicht wenig.

Angesichts der Tatsache, dass das Opfer an den schweren Folgen der Tat vermutlich wesentlich länger leiden muss als die Täter einsitzen werden, kann man sich zwar fragen, ob es sich, wie man hört, hierbei wirklich um harte Strafen handelt. Aber jedenfalls zeigt der Richterspruch, dass die Justiz gewillt ist, derartige Vorfälle nicht mehr bloß als „Entgleisung“ einzuordnen, sondern als das, was sie sind: Widerwärtige, schwere Gewaltverbrechen.

Aber wer sprach denn in diesem Kontext überhaupt von Entgleisung? Das war die Wortwahl, die – immerhin versehen mit dem Adjektiv „grässlich“ – der zuständige Richter (ebenfalls am Landgericht Berlin) September diesen Jahres in der mündlichen Urteilsbegründung für die Tat von Torben P. als angemessen erachtete. Torben, jener nette Abiturient und Juristensohn, der, wir erinnern uns, mehrfach „kraft- und schwungvoll“ (so seinerzeit das Gericht) auf den Kopf des von ihm vorher aus Jux und Tollerei mit einer gefüllten Colaflasche niedergeschlagenen und wehrlos am Boden liegenden Opfers eintrat – man hat die Video-Aufzeichnungen vom tänzelnden Täter auf dem Gelände der Berliner U-Bahn noch vor Augen – dieser Torben bekam vom Gericht zwei Jahre und 10 Monate Haft zugedacht. Und zudem äußerst einfühlsame, ja fast entschuldigende Worte des Vorsitzenden Richters. Man hätte angesichts der Brutalität der Tat gar nicht anders gekonnt, als wegen versuchten Totschlags eine abschreckend hohe (sic!) Strafe zu verhängen, denn immerhin habe der junge Mann einen anderen völlig grundlos „fast totgetreten“. Aber natürlich müsse gefragt werden, ob man mit einem solchen Urteil nicht die Zukunft eines Heranwachsenden zerstöre, eines Jugendlichen aus intakter Familie, sozial integriert, bisher nie auffällig geworden, kurz vor dem Abitur …! Nein, sagt Richter Nötzel, die Strafe war nötig, aber zerstört ist trotzdem nichts. Zunächst einmal bleibe die Haftverschonung (sic!) aufrecht erhalten; dann könne die Strafe nach einem Drittel der Zeit (11 Monaten) ja zur Bewährung ausgesetzt werden. Der unbehinderte Schulgang sei überdies auch während der Haft möglich, offener Vollzug ohnehin angebracht. Aber einmal pro Woche, dies dann doch, wäre eine Meldung bei der Polizei schon angezeigt.

Alles das sind Überlegungen, die einem Jugendrichter wohl anstehen. Die irreparablen Schäden des Opfers werden nicht dadurch weggezaubert, dass man den Täter hängt. Dass also der nette Torben beim Berliner Landgericht auf so viel Einfühlungsvermögen traf, sei ihm gegönnt. Dass sein Kumpel, Nico A., der einem dem Opfer zu Hilfe Eilenden mehrere Tritte in den Rücken verpasste, mit einer Geldstrafe von 250 Euro und der Teilnahme an einem Erste-Hilfe-Kurs davon kam, zeugt geradezu von richterlicher Herzensgüte. Aber wie verstehen sich dann die vier bis sechs Jahre Haft für die neuen U-Bahn-Schläger? Ohne die Frage nach der zweiten Chance (sic!), die im Torben P.-Urteil eine so zentrale Rolle gespielt hatte? Der Tathergang ist vergleichbar, die Folgen für das Opfer auch. Aber trotzdem: Kein richterliches Bedenken, das mit ähnlicher Zartheit der Zukunft der jugendlichen Gewalttäter gewidmet ist. Und auch nichts, was die Differenz aufhellt. Oder doch? Zwar sind auch drei der vier jungen Männer bisher nicht straffällig geworden, aber ihre Zukunft scheint trotzdem durch eine harte Strafe nicht dermaßen bedroht gewesen zu sein, dass sie den besonderen Schutz des Gerichts verdient hätte.

Das Urteil schweigt diesbezüglich, und so ist man auf Mutmaßungen angewiesen. Ob das coole Strafmaß damit zusammenhängt, dass – aller Wahrscheinlichkeit nach – ohnehin keine erwähnenswerte Zukunft für die vier Schläger zu erwarten stand? Für den 18-jährigen Kenianer, den gleichaltrigen Kosovaren, den 17-jährigen Deutsch-Iraker und den 15-jährigen Bosnier? Ihre Rahmenbedingungen waren erkennbar schlecht: Kein gutbürgerlicher Hintergrund, kein Abitur, statt versauter Zukunft bereits versaute Gegenwart. Und nun vier bis sechs Jahre. Ein Schuft, wer Böses dabei denkt!