Gastbeitrag von Jan Friedeborn

I. Das Provisorium

Derzeit bahnt sich das Ratifizierungsgesetz für den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) seinen Weg durch Bundestag und Bundesrat. Mit diesem soll die ursprünglich auf drei Jahre befristete Übergangslösung Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) verstetigt werden. Nicht mehr ein dubios anmutendes special purpose vehicle im Gewand einer Aktiengesellschaft luxemburgischen Rechts soll die Mitgliedstaatenmilliarden zur Rettung der PIIGS-Staaten verwalten, sondern eine internationale Organisation auf Basis eines völkerrechtlichen Vertrags.

Damit ändert sich juristisch einiges. Nicht das flexible Privatrecht, sondern das etwas behäbigere Völkerrecht ist nun Grundlage des europäischen Rettungsschirms. Die Entscheidungsfindung innerhalb des ESM wird der Logik anderer internationaler Finanzinstitutionen wie IWF und Weltbank folgen. Nicht das sonst im Recht der internationalen Organisationen verbreitete Prinzip one country – one vote, sondern das eher aus dem Gesellschaftsrecht bekannte Prinzip one share – one vote bestimmt die Machtverhältnisse dort.




Die juristische Konstruktion des Rettungsschirms ist dabei naturgemäß von Interesse. Aber auch die Tätigkeit des künftigen ESM selbst lässt den Beobachter aufhorchen. Denn eigentlich sollen Mitgliedstaaten nach Art. 125 Abs.1 S. 2 AEUV nicht für die Verbindlichkeiten eines anderen Mitgliedstaates einstehen müssen. Behelfsmäßig wie die EFSF war daher auch die europarechtliche Rechtfertigung für das neue Konstrukt. Denn einem Mitgliedstaat darf zwar finanziell unter die Arme gegriffen werden, wenn er „aufgrund von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Ereignissen, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht“ ist (Art. 122 Abs. 2 S. 1 AEUV). Dass das Aufkaufen von Staatsanleihen aber nicht mit finanziellen Hilfen im Falle einer Naturkatastrophe gleichzusetzen ist, war so offensichtlich, dass nun sogar eine Änderung von Art. 136 AEUV angestrebt wird, um eine sichere rechtliche Grundlage für den ESM zu schaffen. Das dürfte nicht ganz einfach werden, denn immerhin müssen alle 27 Mitgliedstaaten der EU einer Vertragsänderung zustimmen.

II. Die Physik des Finanzmarktes

Noch liegt der Staffelstab in den Händen der EFSF. Sie soll den finanziell angeschlagenen Ländern zu Hilfe eilen und hat sich dafür ein Hebelgesetz zunutze gemacht. Archimedes wird das Bonmot zugeschrieben, man könne die Welt aus den Angeln heben, wenn man einen festen Punkt im Weltraum hat. Im Finanzmarkjargon heißt dieser Punkt Leverage-Effekt. Für den Finanzlaien ist es so wunderbar wie wunderlich, dass aus 440 Milliarden Euro, die dem EFSF zur Verfügung stehen, das drei- oder sogar vierfache werden können soll. Der ESFS erlaubt einen Blick in sein Labor der Finanzalchemie. Dort hat er sich zwei Hebel zurechtgelegt, mit dem der Rettungsschirm zu einem Rettungsheißluftballon wird. Man muss allerdings sehr genau hinsehen, um das zu erkennen.


Der erste Hebel heißt neudeutsch Partial Protection Certificate. Dieses Zertifikat, das zeitgleich mit der Emission von Staatsanleihen ausgegeben wird, aber separat gehandelt werden kann, ermöglicht dem Inhaber im Falle einer Zahlungsunfähigkeit des Staates, zwanzig bis dreißig Prozent seines eingesetzten Kapitals vom EFSF zurückzubekommen. Damit ist die Investition nicht vollständig geschützt. Aber auf diese Weise sollen private Investoren angehalten werden, Staatsanleihen auch noch dann zu kaufen, wenn das Ausfallrisiko auf zwanzig Prozent taxiert wird. Letztlich handelt es sich dabei also um eine Investitionsförderung auf dem Finanzmarkt.

Der zweite Hebel trägt den Namen Co-Investment Fund (CIF). Ein solcher CIF soll luxemburgischem Recht unterliegen und aus zwei bis drei Tranchen mit unterschiedlicher Rückzahlungspriorität bestehen. Externe Investoren können dem Fonds Geld zur Verfügung stellen, das zum Ankauf von Staatsanleihen verwendet wird. Während der EFSF in die Tranche mit der geringsten Rückzahlungspriorität investiert, kommen private Investoren in den Genuss bevorzugter Rückzahlungen. Werden einzelne Staatsanleihen nicht bedient, geht dies zunächst zu Lasten des EFSF. Auch mit dieser Konstruktion wird privaten Investoren ein bestimmtes Ausfallrisiko abgenommen.

Bislang haben Irland, Portugal und Griechenland Unterstützung von der EFSF erhalten. Die Hebelmechanismen sind dabei noch nicht zum Einsatz gekommen. Laut EFSF stehen diese nun seit Januar 2012 bereit und können auf Anfrage eines Mitgliedstaats aktiviert werden.

Was aber bedeutet diese Finanzalchemie für das historisch errungene Budgetrecht der nationalen Parlamente? Denn Aktionäre der EFSF sind die Mitgliedstaaten, und jedwede Finanzierung derselben tangiert den nationalen Haushalt. Als Aktionäre einer luxemburgischen Aktiengesellschaft trifft die Mitgliedstaaten allerdings keine Nachschusspflicht. Die finanziellen Verpflichtungen Deutschlands gehen zunächst also nicht über das hinaus, was der Bundestag mit seiner Zustimmung zur EFSF im Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus (Stabilisierungsmechanismusgesetz) beschlossen hat. Aber das ist nur eine Teilberuhigung.


Für den ESM hat Herta Däubler-Gmelin, ehemals Justizministerin, angekündigt, eine Verfassungsbeschwerde anzustrengen, um ihn zu stoppen. Denn dieser beschneide das Haushalts- und Kontrollrecht des Bundestags. Zwar sind die Mitgliedstaaten als Mitglieder des ESM nach Art. 8 Abs. 5 des Vertrags zur Einrichtung des ESM nur bis zur Höhe des genehmigten Stammkapitals haftbar. Und die finanzielle Beteiligung Deutschlands wird der Bundestag mit dem Gesetz zur finanziellen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM-Finanzierungsgesetz) beschließen. Es werden 190 Milliarden Euro deutscher Staatshaushalt sein, die dem ESM zur Verfügung stehen. Bei einem Bundeshaushalt von 306 Milliarden Euro für 2012 eine durchaus beachtliche Summe. Aber hier gilt wie beim EFSF: Die finanziellen Verpflichtungen Deutschlands hat der Bundestag zuvor abgesegnet.

Trotzdem ist der Verdacht, dass es am Ende doch nur wieder der Steuerzahler ist, den die Hunde beißen, nicht ganz von der Hand zu weisen. So raffiniert EFSF und ESM auch konstruiert sind, auch sie vermögen es letztendlich nicht, aus einem Euro zwei (oder noch mehr) zu machen. Zwar erhöhen die Hebelmechanismen das finanzielle Risiko Deutschlands nicht unmittelbar. Sollten Verluste über die staatlichen Beiträge hinaus entstehen, gehen diese auf das Konto der privaten Investoren.


Allerdings hat die EFSF die Möglichkeit, selbst Anleihen auszugeben, für die sie Zinsen zahlen muss. Durch die Zinsverpflichtungen könnten die Verbindlichkeiten der EFSF die ursprünglich zugesagten staatlichen Beiträge übersteigen. Noch deutet nichts darauf hin, dass dieses Szenario Wirklichkeit wird. Aber für die Zukunft auszuschließen ist es natürlich nicht.

Die Hebelmechanismen haben aber einen weiteren Haken, dem weit mehr Gewicht zukommt. Mit den staatlichen Finanzhilfen ist die Hoffnung verbunden, das Geld entweder nie einsetzen zu müssen oder es, falls es doch eingesetzt wird, eines Tages wiederzubekommen. Das zeigt die Struktur von EFSF und ESM.

Während die EFSF als Aktiengesellschaft ein Grundkapital von 28 Millionen Euro und zusätzlich genehmigtes Kapital in Höhe von 1,5 Millionen Euro ausweist, kann Deutschland laut dem Stabilisierungsmechanismusgesetz Bürgschaften und Garantien für die EFSF bis zu 211 Milliarden Euro übernehmen. Bürgschaften und Garantien sind Eventualverbindlichkeiten, und es besteht die Möglichkeit und meistens auch die Hoffnung, dass daraus keine Zahlungspflicht erwächst.

Der ESM-Vertrag sieht in Artikel 8 vor, dass das genehmigte Stammkapital 700 Milliarden Euro beträgt. Davon sind 80 Milliarden einzuzahlen, die restlichen 620 Milliarden sind jederzeit abrufbar. Auch diese Konstruktion lässt vermuten, dass darauf spekuliert wird, nicht die ganzen 700 Milliarden an den ESM überweisen zu müssen.

Durch die Hebelmechanismen steigt nun aber das Risiko eines Totalverlustes. Bei einem Darlehen oder dem Ankauf von Staatsanleihen und einem darauf folgenden Schuldenschnitt geht nur ein Teil der ausgereichten bzw. der investierten Summe verloren. Die Hebelmechanismen haben zur Folge, dass in einem solchen Fall vorrangig die Finanzierungsbeiträge von EFSF oder ESM verloren gehen. Denn ein Schuldenschnitt von zwanzig Prozent bedeutet, dass der teilweise Schuldenerlass wegen der Partial Protection Certificates von der EFSF zu tragen ist oder aufgrund nachrangiger Rückzahlungsprioritäten im Rahmen eines CIF hauptsächlich zulasten der EFSF-Tranche geht. Nicht das Haftungsrisiko Deutschlands wird also durch die Finanzhebel erhöht, sondern das Verlustrisiko. Die Hoffnung, nur einen Teil der zugesagten Summen tatsächlich einsetzen zu müssen, wird dadurch trügerisch.

Bei den Hebelmechanismen besteht der Trick also nicht darin, dass hinter dem Rücken des Parlaments zu Lasten des Steuerzahlers Verbindlichkeiten eingegangen werden. Vielmehr wird vernebelt, dass die Nationalstaaten zu nachrangigen Gläubigern werden und dadurch für den Steuerzahler das Verlustrisiko immens steigt.

Jan Friedeborn