Ich habe gute Kontakte in die Schweiz. Meine Zeit an der Universität Zürich – immerhin 7 Jahre – steht zweifellos als gewichtiger Habenposten in meiner Berufsbilanz. Auch danach blieben mir Land und Leute eng verbunden. Die Schweizer Rechts- und Staatsorganisation hielt für mich zwar mehr Überraschungen bereit, als ich angesichts der (nicht nur räumlichen) Nachbarschaft  je vermutet hätte, aber insgesamt hatte ich stets den Eindruck, ich bewegte mich auf vertrautem Gelände.

Immerhin gab es einen zentralen Punkt, an dem ich sicher war, eine tiefgreifende Differenz zwischen den Rechtsordnungen beider Länder ausmachen zu können, den man in vielen Facetten schildern, mit etlichen Beobachtungen illustrieren und als historisch erklärbare Grundstruktur beschreiben könnte. In einer wohlwollend-kritischen (und nicht wahnsinnig differenzierten) Wendung läßt er sich auf die Formel bringen: Deutschland hat einen Rechtsstaatsüberhang und ein Demokratiedefizit und die Schweiz hat einen Demokratieüberhang und ein Rechtsstaatsdefizit. Das wird als Kurzformel für ein ganzes Perspektivenbündel von Beobachtern auf beiden Seiten meist sogar akzeptiert, wirkt aber gleichwohl nicht integrativ: In zahllosen Diskussionen mit Schweizer Freunden haben mir diese etwa die elementaren Vorzüge der schweizerischen direkten Demokratie nahebringen wollen (ohne mich je zu überzeugen), während ich – mit vergleichbarem Erfolg – nicht müde wurde, die Segnungen der deutschen Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit zu preisen. Zu vorgerückter Stunde verstieg ich mich sogar zu der Behauptung, ich würde, wenn ich die deutsch-schweizerische Grenze in Richtung Heimat passierte, regelmäßig eine Art rechtsstaatlicher Erleichterung empfinden. Denn, was auch immer einem durchgedrehten Zollbeamten einfallen würde, mein Bürger-Dasein durch willkürträchtiges Handeln zu beschweren (Erlebnisse dieser Art hat es im Laufe der Jahrzehnte durchaus auf beiden Seiten der Grenze gegeben), in Deutschland habe ich das sichere Gefühl, dass spätestens ein Verwaltungsgericht mir Genugtuung verschaffen würde. Während der Schweizer Beamte, dem es – durch mangelnde Freundlichkeit meinerseits angespornt – plötzlich gefiel, meinen wie stets mitgeführten Hund für zollpflichtig zu erklären (den Multimix übrigens noch rassemäßig upzugraden, um die Forderung des Schweizer Fiskus stattlicher ausfallen zu lassen), keinen Gerichtsspruch fürchten musste (und der Vorgesetzte war auf seiner Seite).

Kurz und gut und nicht nur anekdotisch: Rechtsstaatlichkeit auf hohem Niveau durch effektiven Gerichtsschutz gegenüber staatlicher Willkür sichergestellt – das gehört zu den wenigen Dingen, die in mir eine Art Nationalstolz auslösen. Mit Fehlerquote, versteht sich, aber in unserem Rechtssystem doch so fest verankert, dass der Bürger („denk ich an Deutschland in der Nacht…“) ruhig schlafen kann. Hätt´  ich gedacht. Bis ich vergangene Woche im Flugzeug in der Süddeutschen von einer speziellen Art der Drogenkontrolle durch die bayerische Polizei las. Da war ich denn doch um den Schlaf gebracht:

Das Prozedere geht so: Bei Verdacht aufs Revier bringen/Anwalt verweigern/ splitternackt ausziehen/breitbeinig hinstellen lassen/Analnachschau/Peniskontrolle durch Rückziehen der Vorhaut. Der Staat will´s wissen; ist unter Umständen sogar sein schlechtes Recht. Allerdings nach verbreitetem Verständnis ein Recht, das seinerseits rechtsförmig eingebunden ist. In die Grundsätze des rechtsstaatlichen Verwaltungshandelns; Regeln von Gesetzmäßigkeit, Verhältnismäßigkeit und rechtmäßigem Ermessen. Polizeimaßnahmen bilden da keine Ausnahme.

Ein 27-jähriger Münchner (M) hat, wie dem Zeitungsbericht zu entnehmen war, von dieser Einbindung nichts zu spüren bekommen. Dafür aber nackte Schikane. Gelangweilte Spaßpolizei. Solche, die man aus schlechten amerikanischen Cop-Krimis kennt. Widerlich.

Es begann mit einer Denunziation, es folgte eine Hausdurchsuchung. Sechs Beamte – Pistole im Anschlag – fanden ein Tütchen alter Hanfblätter, diese allerdings ohne Rauschsubstanz (THC). Sie zu rauchen ist erlaubt; das Rauschmittelgesetz nicht einschlägig. Das Verfahren wurde folglich eingestellt. M war aber wegen des (ausgeräumten) Verdachts unzulässigen Drogenbesitzes in den Polizeicomputer geraten, offenbar mit Bild – und damit nahm das Verhängnis seinen Lauf. Seit dem ersten Schlag ins Fahndungs-Wasser, war M immer wieder ins Fadenkreuz der Drogenfahnder gelangt. Bis jetzt 10 mal. Wer mag da noch an Zufall glauben.

An den verschiedensten Orten in München kamen die Beamten auf ihn zu, und es folgte immer das Gleiche: aufs Revier verbracht, Ausziehen/Beine spreizen/Vorhaut zurückziehen. Das Ergebnis auch immer das gleiche. Drogen wurden nicht gefunden.  Und ein Drogentest wurde nie gemacht. So weit reichte das Erkenntnisinteresse dann doch wieder nicht.

Vor den (Straf-)Richter kam die Sache nur einmal. Allerdings nicht etwa, um das polizeiliche Handeln auf Strafbarkeit hin zu untersuchen, sondern aufgrund einer Anzeige wegen Beamtenbeleidigung. M hatte in hilfloser Wut die Polizisten beim vorläufig letzten Durchlauf als „Staatsbimbos“ bezeichnet. Recht zurückhaltend, wie mir scheint, angesichts des Umstands, dass einer der beteiligten Polizisten, der ihn in aller Öffentlichkeit gepackt und zum Anlegen von Handschellen auf das Polizeiauto gedrückt hatte, ihm kraftvoll bedeutete: „Wenn du nicht parierst, machen wir noch viel mehr mit dir“. Die Strafrichterin sah im Staatsbimbo übrigens keine Beleidigung, rügte sogar  (trotz Beruhigung durch einen Polizei-Zeugen: „Das machen wir immer so“) die Entkleidungspraxis als völlig unangemessen. Ging dann allerdings in die wohlverdiente Mittagspause. Direkte Konsequenzen für die Polizei gab es keine.

Immerhin eine gewisse Öffentlichkeitswirkung, die den Polizeisprecher auf den Plan rief, der sich denn auch ein paar erläuternde Worte abrang: Ausgangspunkt für derartige Kontrollen seien polizeiliche Erfahrungswerte, wobei die Inaugenscheinnahme des Intimbereichs dann rechtlich zulässig sei, wenn „drogentypische Auffälligkeiten sowie polizeilich einschlägige Vorerkenntnisse“ vorlägen.

Das weckt Neugierde. Um welche Auffälligkeiten und Vorerkenntnisse mag es sich in unserem Fall gehandelt haben, dass sich die Staatsgewalt zum zehnmaligen – wenn auch immer erfolglosen – Zugriff auf denselben Bürger genötigt fühlte? Der polizeiliche Erfahrungssatz muss etwa so lauten: Bei demjenigen, der neun Mal ohne Drogen angetroffen wurde, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er beim zehnten Mal welche besitzt, um ca. 900 %. Das leuchtet ein.

Aber für die Rechtfertigung rabiater Untersuchungen der beschriebenen Art müssen, laut Polizeisprecher, noch drogentypische Auffälligkeiten vorliegen. Man fragt sich, worum es sich im konkreten Fall gehandelt haben könnte. Aufschluss darüber gibt das Protokoll. Der Verdächtige sei blass gewesen, habe glasige Augen gehabt und sei beim Anblick der Polizei unruhig geworden. Das überzeugt nun freilich gar nicht, denn es dürfte auf ziemlich viele Bürger zutreffen und erklärt keineswegs, weshalb M gleich zehnmal zum peinlich-gepeinigten Untersuchungsobjekt erkoren wurde. Polizeisprecher Wolfgang Wenger hat allerdings auch dafür eine Erklärung: Leicht defensiv spricht er von einer „nicht unüblichen Kontrolltiefe“ (sic!), beruhigt sich aber gleich wieder mit dem tröstlichen Satz: „Er scheint in ein bestimmtes Raster zu fallen“. Ach so, das erklärt dann wieder alles!

Da waren doch noch meine Schweizer Freunde. Die ihre Basisdemokratie nicht gegen den schönsten Rechtsstaat eintauschen würden, selbst wenn ich noch so sehr die umfassende Justizgewähr und gegenüber staatlichem Handeln insbesondere die funktionierende Verwaltungsgerichtsbarkeit anpreise.

Justizgewähr? Verwaltungsgerichtsbarkeit? Von der war in dem skandalösen Fall der Münchner Drogenfahndung doch gar nicht die Rede. Sie war überhaupt nicht involviert. Wo also ist der Zusammenhang? Vorwerfen kann man ihr diese Sache sicher nicht!

Kann man nicht? Kann man doch! Wenn sie nämlich so funktionieren würde, wie ich naiverweise geglaubt habe, dass sie funktionieren würde, stünde die Sanktion für das beschriebene Verhalten fest, und kein Polizist käme auf die Idee, sich so zu verhalten wie im geschilderten Fall. Er würde so oft und so konsequent des rechtswidrigen Handelns geziehen und gegebenenfalls zur Rechenschaft gezogen werden, dass ihm der Spaß an den Allmachtsschikanen verginge.

Wie steht es also um unseren Rechtsstaat? Sicher besser, als der abstoßende Vorfall suggeriert – das ist meine Überzeugung weiterhin. Denn ich bin von mehr als einem halben Jahrhundert rechtskulturbildender Wirksamkeit der Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit überzeugt worden. Fälle, wie der geschilderte, machen mich wütend, aber im Grundsatz nicht wankend. Aber eben: Im Grundsatz. Mit der gleichen Gewissheit, mit der ich bislang unser Justizstaatskonzept gegenüber meinen direktdemokratischen Freunden aus der Schweiz verteidigt habe, werde ich wohl in absehbarer Zeit nicht mehr auftreten.