Gastbeitrag
Vera Finger hat mir folgenden Text geschickt:
Das Grundgesetz ist nicht die einzige Verfassung. Auch die Bundesländer besitzen solche Texte. Nicht alle sind so spektakulär wie der hessische von 1946 mit seinem ausgebremsten Sozialisierungsartikel 41 und seinem tapferen Festhalten an der Todesstrafe. Die Niedersächsische Verfassung zum Beispiel ist eher brav und bodenständig. „Sturmfest und erdverwachsen“[1], sowohl Land als auch Leute. Mischung aus matschig-braun und schlick-grau.
Die Niedersächsische Verfassung ist so brav, dass sie faktisch seit 1951 unbehelligt in der Rechtswelt zu stehen scheint. Nur wenig an ihr bietet einen Kommunikationsanreiz; „ein stabiles und verlässliches rechtliches Fundament, von einem breiten politischen Konsens getragen“[2], in das auch der Landtag nur selten hineinpfuscht. Vor kurzem aber ging ein Ruck durch die norddeutschen Juristen, und seit Mitte Juli 2012 ist er im Handel erhältlich: der Hannoversche Kommentar zur Niedersächsischen Verfassung, nach Eigenauskunft „das erste“ Werk seiner Art.
Was eine zumindest ungeschickte Eigenwerbung darstellt; denn dass die Juristen des modernen Rechts irgendein Gesetz unkommentiert lassen könnten, wurde bisher noch nicht beobachtet. So hält es sich auch mit der Niedersächsischen Verfassung: Vor Hannover kommentierten den Text bereits ein Vizepräsident des Verwaltungsgerichts a.D.[3] und ein Ministerialrat[4]. Außerdem kam 2011 ein Kommentar von Prof. Dr. Jörn Ipsen[5], Universität Osnabrück, auf den Markt.
Hannover nimmt das Recht der Erstgeborenen allerdings nicht total für sich in Anspruch, sondern nur speziell. Das Besondere sei nämlich, dass eine „Vielzahl von Autoren aus Wissenschaft und Praxis ihre Einzelkommentierungen zusammenführen“[6]; ihrer sind es 30, die im Verbund den „wissenschaftlichen Vollständigkeitsanspruch eines Großkommentars“ erheben. Ob sich Ulrich Haltern (Leibniz Universität Hannover) – der als einer der Herausgeber fungiert und von allen Mitwirkenden wohl das größte wissenschaftliche Prestige innehat – etwas bei diesem Werbespruch gedacht haben mag, kann man nur erraten. Ein Meer an Stimmen bedeutet kein automatisches Mehr an Erkenntnisgewinn, und Vollständigkeit ist ebenso wie Einheitlichkeit für immer ein Traum der Menschheit geblieben – der schon gar nicht durch Juristen vollzogen werden kann.
Ein weiterer Kommentar in der Rechtslandschaft also. Dass dieses Medium von Großkanzleien zur Mandantenaquise genutzt wird[7], wird seine Konjunktur verstärken. Aus Hannover, genauer aus dem Geleitwort des amtierenden Niedersächsischen Ministerpräsidenten David McAllister (CDU), tönt: „Es ist gut, dass diese Lücke in der rechtswissenschaftlichen Literatur nun geschlossen werden konnte.“ Nicht unproblematisch: Man sollte den Juristen vielleicht ihre Träume lassen, sie sind schließlich auch nur Menschen.
Der Kommentar sorgte trotzdem für Wirbel[8] im sommerpäuslichen Niedersachsen, wobei sich Ruhe dort in absehbarer Zeit ohnehin nicht so bald einstellen wird. Seit Wulff aus dem Berliner Amt flüchten musste, ist Hannover aufgescheucht. Finanzierungsgeschäft und Nord-Süd-Dialog stehen unter öffentlichem Beschuss und gerichtlicher Beurteilung. Freundschaften werden per SMS aufgekündigt oder auch nicht, Ehrensolde sorgen für erneuten Wirbel, und wer weiß, was oder wer nach Maschmeyer und Glaesecker noch kommen wird. Außerdem steht im Januar 2013 die Landtagswahl an, David McAllister interviewt sich als Präventivmaßnahme schon einmal selbst[9], und es wirbelt munter weiter. Da wird genauer hingeschaut, und nur so lässt es sich erklären, warum ein juristischer Kommentar überhaupt einen Platz in der Tagespresse erhält.
Die Konkurrenz, die dort mit Blick auf den Hannoveraner Kollektivkommentar und das Osnabrücker Einzelwerk von Jörn Ipsen behauptet wird, wirkt zunächst konstruiert. Einzig das Datum der Veröffentlichungen (2011/2012) scheint nicht kollegial abgestimmt gewesen zu sein. Dann aber bemerkt man den Preisunterschied (Hannover: 30,00€ / Osnabrück: 112,00€) - und schaut nochmals genauer hin, dieses Mal in das Vorwort der Hannoveraner Herausgeber. Man erfährt vom Dank an das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur, das mit der Juristischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover das „Projekt maßgeblich gefördert“ hat. Alle Mitwirkenden hätten auf das Honorar verzichtet, sodass „eine weite Verbreitung des Kommentars“ möglich sei. Die ministeriale Förderung soll in Höhe von 56 772 € erfolgt sein, was die Konkurrenz dann doch verzerren könnte. Andererseits: Ipsen verdient an seinem Kommentar. Aus Hannover zieht nur der Nomos-Verlag materiellen Gewinn.
Der zweite Angriffspunkt, der in der Regionalpresse aufgebracht wurde, verdeutlicht das „Warum“ des medialen Interesses. Im August 2012 war das Organstreitverfahren in der Wulffschen Sache „Nord-Süd-Dialog“ vor dem Niedersächsischen Staatsgerichtshof Bückeburg brandaktuell. Die SPD-Landtagsfraktion klagt gegen die
CDU/FDP-Landesregierung wegen Falschinformation durch den niedersächsischen Finanzminister Hartmut Möllring. In der Hannoverschen Kommentierung zum entsprechenden Artikel 24 („Auskunft, Aktenvorlage und Zugang zu öffentlichen Einrichtungen“) nimmt der Fall Wulff/Nord-Süd-Dialog viel Platz ein – in den Fußnoten. Auffällig daran ist vor allem deren Umfang, weil dort fast der gesamte Fall dargestellt wird. Ein „Eingriff in laufende Verfahren“, wie es durch die Kommentare der Presse lief? Ein Schuft, wer Böses dabei denkt!
Immerhin: Wenn ein professionelles Arbeitsinstrument vom amtierenden Ministerpräsident verstärkt beworben und vom Ministerium subventioniert wird; wenn an diesem Instrument auch ein Berend Lindner (CDU-Fraktionsjustiziar, ehemaliger Referent bei Christian Wulff; Kommentierung von Art. 39, Sitzungen der Landesregierung) mitschreibt und der Korruptionsskandal des letzten Jahres als Beispielsfall schlechthin herangezogen wird; wenn dieser Fall zudem aktuell vor Gericht verhandelt und sich vor Ort auf eine Landtagswahl vorbereitet wird – dann schaffen es auch die Fußnoten von einem Artikel 24 in die Tageszeitung.
Ob man sich seitens der „Rechtswissenschaftler“ an der Leibniz Universität Hannover für diesen Kommentar wird begeistern können, bleibt, wenn nicht rätselhaft, dann zumindest offen. Dass man, wie optimistisch verkündet, ernsthaft meint, über einen juristischen Kommentar „Bürgernähe“ herstellen zu können, spricht nicht für die Herausgeber. David McAllister, der sich als „schönen Nebeneffekt“ wünscht, dass beim „Leser das Gefühl dafür geweckt wird, dass man auf diese demokratisch verfasste Land Niedersachsen stolz sein kann“, dem kann man nur antworten: Würde ich Verfassungspatriotismus in mir verspüren, hielte er mich von Kauf, Lesen und Stolz ab.
Vera Finger
[1] Niedersachsenlied. Bis heute mehrheitlich gesungene Version von 1934: Fest wie unsre Eichen / halten alle Zeit wir stand / Wenn Stürme brausen / Übers deutsche Vaterland / Wir sind die Niedersachsen / Sturmfest und erdverwachsen / Heil Herzog Widukinds Stamm!
[2] Hann. KO z. Nieders. Verf., 1. Aufl. 2012, Geleitwort von David McAllister, 5.
[3] Neumann, Heinzgeorg; 3. Aufl 2000.
[4] Hagebölling, Lothar; 1. Aufl 1996; ehemaliger Chef des Bundespräsidalamtes. Erklärte sich im Februar 2012 in Bezug auf Wullfs Ehrensold für befangen.
[5] Der übrigens eine eigene Seite auf dem WulffPlag besitzt: http://de.wulffplag.wikia.com/wiki/J%C3%B6rn_Ipsen#cite_note-13
[6] Hann. KO z. Nieders. Verf., 1. Aufl. 2012, Geleitwort von David McAllister, 5.
[7] Beispiel: http://www.hengeler.com/en/taetigkeitsgebiete/gesellschaftsrecht-neuordnung-von-unternehmen/
[8] http://www.hna.de/nachrichten/niedersachsen/kommentar-sorgt-viel-wirbel-2462852.html
[9] http://www.haz.de/Nachrichten/Politik/Niedersachsen/Wirbel-um-McAllisters-Sommerinterview
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